Vincent Voss

Faulfleisch


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echt sauer auf den.«

      Hübi verharrte und sammelte sich. Er guckte links an Liam vorbei und überlegte, ob und was er sagen sollte.

      »Keine Ahnung, weissu. Kommt wohl aus Hamburg, ne. Hat einfach den Hof gekauft und kommt immer erst sehr spät zurück. Kommt fast nie raus und hat immer die Vorhänge zu, weissu. Manchmal kommen da Männer zu Besuch, oder so, aber der hat ja auch keine Frau und keine Kinder da, weissu.«

      Emotional fühlte sich Liam sonderbar mit dem Herrn Gerichtsmediziner verbündet, denn verdeckte Ressentiments waren ihm gerade von der alt eingesessenen Dorfbevölkerung auch entgegengeschlagen. Sobald im Kindergarten bekannt war, dass Sandra und er sich in einer schwierigen Phase befanden und sogar in Trennung lebten, verhielten sich einige Mütter abweisend, fast arrogant. Meistens die, die einen Landwirtschaftsbetrieb hatten. Auf der anderen Seite war der Gerichtsmediziner sonderbar. Und ja, die verdammte Hand hatte er gesehen. Wenn es denn nicht irgendein Tier gewesen war. Liam überlegte und Hübi wartete auf eine Reaktion.

      »Weissu, wie ich mein, ne?«

      »Ja, ja.« Liam nickte abwesend. »Ja, klar, versteh’ ich voll.« Beide schwiegen.

      »Stubenhocker, ne. Schwuler Stubenhocker!« Hübi erwartete eine anerkennende Reaktion von Liam, doch Liam schwieg beharrlich.

      »Na ja, ich muss weiter, doh.« Hübi verabschiedete sich freundlicher als vorher. Liam blieb mit verschmutzter Skijacke auf der Brücke stehen und schaute sich nachdenklich den Sonnenuntergang in der Oberalsterniederung an. Er wusste nicht einzuordnen, was er von einem Gerichtsmediziner mit solchen Neigungen halten sollte. Er wusste nicht, was ein Gerichtsmediziner genau arbeitete. Er vermutete, dass er sich um die ungeklärten Todesfälle kümmerte und die Leichen obduzierte. Auf der einen Seite hatte Liam dann für solche, in seinen Augen kranken, Neigungen, wie Sado-Maso-Spiele, Verständnis, andererseits wurde ihm der Mann dadurch unheimlicher. Er beschloss, sich das Moor genauer anzuschauen und stieß sich von dem Geländer der Brücke ab. Er schätzte es jetzt auf ein Uhr, hatte aber keine Lust, sich mit einem Blick auf sein Handy zu vergewissern.

      Bis auf Hübi, der mit Teufel gleich um die Kurve am Waldrand gehen würde, war er hier allein. Wahrscheinlich war die Mittagszeit hier auf dem Dorf noch eine heilige Zeit. Dann hatte das Mittagessen dampfend auf dem Tisch zu stehen, und die Familie speiste gemeinsam. Sie sprachen ein Tischgebet. Liam spürte, wie der Zynismus in ihm hochkroch. Eigentlich wünschte er es sich nichts anderes. Abgesehen von dem Tischgebet.

      Die Straße vor ihm führte ins Wakendorfer Moor. Links und rechts säumten Waldstücke den Weg. Selten zuvor hatte Liam so viele verkrüppelte Bäume beieinander stehen sehen. Einzig zahlreiche halbhohe Birken verliehen dem Anblick etwas Ordnendes. Die Asphaltierung wich einem Schotterweg mit respektablen Schlaglöchern. Dahinter führten links und rechts des Weges kleinere Wege ins Unterholz. Linkerhand sah Liam, dass der Weg einige Meter weit befahrbar war, danach wurde er zu einem Wildpfad. Liam spürte das Kribbeln des Entdeckers. Die Anfänge des Moores auf der rechten Seite des Weges, mit brackigen Wasserlöchern und einzelnen, auf kleinen Inseln stehenden, verkrüppelten Bäumen, umgekippten und moosbehangenen Baumstümpfen, waren von seiner Warte zu erkennen und faszinierten ihn. Zur linken Hand sah es aus, als wäre vor langer Zeit Erde abgetragen worden. Das Gelände sah von Menschenhand bearbeitet aus. In dem eingestanzten Rechteck stand hellbraunes Gras kniehoch, ab und an eine Birke. Um das Rechteck führte ein Weg und dahinter senkte sich ein weiteres Rechteck in die Tiefe. Hier war früher Torf gestochen worden. Staunend ging Liam den Weg weiter.

      Hier musste er mit Jack hin. Er würde sich eine spannende Geschichte zu ihrem Ausflug ausdenken, ein abgestürztes Flugzeug und die Besatzung hatte hier noch, bevor sie von der Polizei geschnappt wurde, einen Schatz vergraben. Liam nickte und sah sich mit Jack trittsicher das moorige Unterholz erkunden. Bei den Wasserlöchern, wo es schon sumpfig wurde, musste er natürlich aufpassen. Ihm selbst waren sie auch unheimlich. Er stellte sich vor, aus einem dieser Löcher würde eine Hand herausragen und bei diesem Gedanken genoss er eine wohlige Gänsehaut, die ihm den Rücken hinaufkroch.

      Rechts führte ein Damm durch das sumpfige Gebiet. Offenbar lag auch diese Seite damals höher, nur die Urtümlichkeit ließ es nicht mehr erahnen. Er überlegte. Welchen Weg würde Jack an seiner Stelle wählen? Liam wählte den Dammweg tiefer in das Moor.

      Er ging an einem Wildfutterhäuschen vorbei und konnte sich die Arbeit eines Jägers gut vorstellen. Die Vegetation wurde uriger und auch feindseliger. Er verfing sich mehrmals an Brombeersträuchern und stieß sich schmerzhaft an einem überwucherten Baumstumpf den Fuß. Wie ein Vorhang lichtete sich links und rechts das Unterholz. Direkt an das Moorgebiet grenzend lagen Wiesen und Koppeln, auf der linken Seite sah er in der Ferne ein altes Holzgatter und einen Feldweg. Die Sonne am Horizont schimmerte rötlich und tauchte die Landschaft in ein Licht, in dem Liam sich angenehme Traumsequenzen vorstellten konnte. Er war beeindruckt und blieb stehen. Er ließ den Blick über den Horizont gleiten und atmete tief ein. Zum ersten Mal an diesem Tag war er eins mit sich und er genoss den Augenblick, ehe er erschrak.

      Am Horizont, hinter einem Laubwaldstück, stand ein altes Bauernhaus. Liam brachte seine letzten Überlegungen, die er auf der Steinbrücke hatte, ehe Teufel ihn mit seinem Pansenatem beglückte, in Übereinstimmung mit seiner weiteren Wanderung. Es konnte sein, dass das der alte Königshof war. Vorhin hatte er nur die alte Holzbrücke sehen können, da war er auf der anderen Seite der Alster gewesen.

      Das würde er prüfen.

      Der vor ihm liegende Feldweg bog später nach rechts ab, also zurück zur Alster, und von dort konnte er einen freien Blick in Richtung Laubwald und Gehöft bekommen. Aufgeregt beschleunigte er seinen Schritt und blieb nach der Biegung stehen. Hinter einem Baumstumpf (er schätzte, es war eine Weide, weil nur Weiden seiner Ansicht nach solche Triebe hatten), aus dem mehrere kleine Stämme austraten, stand eine Gestalt. Verharrte regungslos und beobachtete mit einem beeindruckenden Fernglas den Horizont. Gedungene Statur, durch die Kälte in sich zusammen gekauert, passable Tarnkleidung. Sie verschmolz mit dem dunkelgrünschwarzen Baumstumpf. Liams Herzschlag beschleunigte sich. Er brachte die Gestalt augenblicklich mit den Geschehnissen auf dem Königshof zusammen. Der Gerichtsmediziner wurde schon beobachtet. Trotzdem wollte er sich zurückhaltend und vorsichtig verhalten. Er entspannte sich, atmete durch und versuchte dann, so normal wie möglich, seinen Weg fortzusetzen.

      Das Fernglas war nicht auf den Königshof gerichtet, analysierte Liam. Gut. Was gab es hier sonst zu beobachten? Vielleicht ein Naturfreund. Oder ein Spanner. Vielleicht wimmelte es in diesem Moor ja nur so von Perversen. Liam unterdrückte ein Lachen bei diesem Gedanken. Entweder war es eine Frau oder ein kleinerer Mann. Sie trug einen Rucksack von Zermatt in Tarnfarben, eine dunkle Outdoorjacke und die Haare blieben durch eine Kapuze verborgen. Liam stand wenige Schritte hinter ihr und wartete darauf, dass sich die Person rührte. Nichts. Liam räusperte sich. Erschrocken drehte sich eine ältere Frau um. Eine graumelierte Strähne fiel ihr in die Stirn. Hinter Tränensäcken blickten neugierige Augen, umrahmt von durch Kälte geröteten Wangen. Liam fand die Frau auf Anhieb sympathisch.

      »Was beobachten Sie denn dort, wenn ich fragen darf?« Er reckte den Kopf gen Horizont.

      »Schäfer«, stellte sie sich vor und reichte ihm die rechte Hand hin. Mit der linken zog sie etwas aus der Jackentasche, zeigte ihm einen Ausweis mit einem Foto von ihr aus tränensackärmeren Tagen.

      »DOG, Deutsche Ornithologen-Gesellschaft. Ich bin Lehrerin«, erklärte sie ihm das Akronym und nannte ihren Beruf. Liam war von ihrem Auftreten überrascht und suchte nach einer adäquaten Antwort. Es fiel ihm nichts ein also fragte er. »Und was beobachten Sie?«

      Sie nickte, als würde sie jetzt seine Frage mit ihrem Tiefgang erkennen können. Sie steckte den Ausweis wieder ein und nahm den Feldstecher, der an ihrem Hals hing, ab. »Sumpfohreulen. Letztes Jahr habe ich an mehreren Stellen in den Schlehenbüschen auf der anderen Seite des Weges Gewölle gefunden. Jetzt hier. Aber noch kein Nest.« Aus einem Reflex heraus schaute sich Liam die kahlen Äste der knöchernen Bäume an.

      »Es sind Bodenbrüter«, belehrte sie ihn und Liam wusste, dass er sich zumindest nicht als Vogelexperte ausgeben konnte, wollte er mit ihr im Gespräch bleiben.

      »Ja,