Vincent Voss

Faulfleisch


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im Dorf. Irgendwer kannte bestimmt Wachmeister Meier aus der Großgemeinde in Henstedt-Ulzburg. Und haben Sie schon gehört? Der da beim Bürgermeister wohnt, sieht überall blutige Hände an den Fenstern und nackte Männer mit einem roten Gummiball durch das Moor laufen. Kein Wunder, dass sein Sohn nur schwarze Bilder malt, wie ich gehört habe.

      Ja, das wäre ein guter Start.

      Er ließ den Motor an und sah Hübi und Clemens mit dem Fahrrad angeradelt kommen. An Hübis Seite lief ein großer, zotteliger, brauner Hund, der zu Hübi passte. Hübi beachtete Liam nicht und auch Liam ignorierte Hübi mit aller ihm zueigen stehenden Arroganz.

      Zuhause stand er mit einer Tasse heißem Pflaumen-Vanille-Tee in der Hand an der Terrassentür und beobachtete die untergehende Sonne hinter dem kleinen Wald in seinem Garten. Es mehrten sich die Zweifel am Gesehenen und er glaubte, sich etwas eingebildet zu haben, aber ein Rest Unsicherheit blieb. Eine Hand, die sich abstützte und dabei die Gardine kurz zur Seite riss. Ein Ruck, sie schmierte blutend an der Scheibe entlang und verschwand wieder hinter dem Fenster. In der Dunkelheit sah Liam häufiger in aufgehängten Mänteln und Jacken lauernde Gestalten in seiner Wohnung, jedoch folgte die Einsicht immer unmittelbar und ließ ihn erleichtert zurück. Er nippte an der Tasse und der Tee schmeckte ihm nicht mild genug. In der Küche goss er etwas Milch nach und rührte Honig hinein. Das Umrühren durchschnitt die Stille, denn es machte ihn auf sie aufmerksam. Nachdenklich nahm er wieder seinen Platz mit Sicht auf den Garten ein und die Sonne war in der kurzen Zeit so tief gesunken, dass das Wäldchen zu einem dunklen Ort mit lichten Flecken geworden war und er erinnerte sich an ein psychedelisches Stück von Pink Floyd auf der Ummagumma.

      Jack glaubte, dass Kobolde in dem Wald wohnen würden und für Jack musste der Wald riesengroß erscheinen, mit einer Unzahl an kleinen Verstecken und der großen Gefahr, sich darin zu verlaufen. Letztlich waren es nur zweiundzwanzig Fichten, die dort standen, aber auch Liam konnte sich gut Kobolde in dem Wald vorstellen.

      Geschmeidig schälte sich eine Katze aus dem Schatten des Waldes und pirschte über den Rasen. Offenbar hatte Nachbars Kater einen geregelten Tagesablauf, denn wieder trug er seine Beute im Maul zur Veranda, legte sie dort ab, setzte sich und blickte gelangweilt umher. Liam konnte nicht erkennen, was für ein Tier das erbeutete Knäuel war, er schätzte, ein Vogel. Der Kater nahm sein Abendessen ins Maul, und nach einigen Schritten sprang er auf den Fenstersims vor Liams Wohnzimmerfenster. In aller Ruhe fraß er unter Liams Blicken.

      ›Was, wenn es ein Tier war?‹, fragte sich Liam. ›Und keine blutige Hand.‹ Vielleicht hatte der Herr Gerichtsmediziner ebenfalls eine Katze oder einen Kater. Und vielleicht schleppten die ihre Beute ins Haus und verputzten sie dort auf dem Fenstersims. Liam merkte, wie sich die galoppierende Unruhe in seinem Kopf beruhigte und zum ersten Mal empfand er etwas, wie eine stille Verbundenheit zu dem Kater auf seinem Fenstersims.

      Er wachte im Schlafzimmer auf und hatte ein unbehagliches Gefühl. Es musste immer noch Nacht sein, verriet ihm die Dunkelheit und durch die geöffneten Fenster hörte er, dass es stürmisch geworden war. Die Bäume im Wald rauschten. Er war beunruhigt und richtete seine Aufmerksamkeit nach innen, ob er etwas Unangenehmes geträumt hatte. Er konnte sich an nichts erinnern.

      Draußen quietschte ein Scharnier und etwas Schweres polterte. Sein Herz raste, er konnte das Geräusch nicht einordnen und ehe er sich beruhigen konnte, wiederholte es sich. Aus Angst aber auch aus Bequemlichkeit fiel er in eine Schockstarre und sein erster Impuls war, einfach liegen zu bleiben. Doch er raffte sich auf, um ins Wohnzimmer zu laufen.

      Seine Vormieter waren Gartenfanatiker gewesen und dementsprechend hatten sie eine komplette Beleuchtungsanlage um die Veranda und den Schuppen installiert. Mit einem Knopfdruck war alles hell, zumindest bis zur halben Rasenfläche. Er konnte nicht erkennen, was das Geräusch verursachte. Schemenhaft sah er, wie sich die Fichten und Baumkronen der Laubbäume im Sturm bogen.

      Erneut polterte es und es schien direkt von der Außenwand zur Einfahrt zu kommen. Es was das Holztor zur Auffahrt. Er hatte es nicht richtig eingehakt. Anstatt nur in Unterhose bei der Kälte rauszulaufen, besann er sich und zog sich seinen Jogginganzug über und blieb stehen.

      Etwas war über den Rasen gehuscht. Sehr schnell und unförmig. Ihn verließ der Ehrgeiz, das Poltern abzustellen, stattdessen wünschte er sich, er wäre im Bett liegen geblieben. Er wollte nicht mehr wissen, was da lang huschte. Er kam sich bei der hellen Wohnzimmerbeleuchtung beobachtet vor. Mit angehaltenem Atem tastete er, den Rasen beobachtend, nach dem Lichtschalter. Es wurde dunkel. Ein Schatten sprang an die Wohnzimmerscheibe und Liam schrie auf. Es war der Mistkater der Nachbarn. In seinem Maul hielt er den abgetrennten Stumpf einer blutigen Hand, die an der Fensterscheibe Blut verschmierte.

      Liam schrie auf …

      Und nahm ein gelegentliches Poltern wahr. Draußen stürmte es, hörte er durch das geöffnete Fenster. Auch seinen Herzschlag konnte er in seinem Kopf hören. Bevor er das verdammte Holztor schließen wollte, ging er ins Bad und spritze sich kaltes Wasser ins Gesicht, um sicher zu stellen, dass er nicht wieder träumte. Die restliche Nacht verbrachte er unruhig.

       Hund auf zwei Beinen und Frau Schäfer, die Vogelfrau

      Seit zwei Stunden saß er vor seinem Bildschirm, der dritte Kaffee des Tages stand dampfend vor ihm und er war so wenig produktiv, wie schon lange nicht mehr. Seit zwei Stunden sprang ihn das in Arial auf Schriftgröße 14 und fett geschriebene Wort »Ideen« auf einem leeren Word-Dokument an. Was war bloß los mit ihm? Sicher, er hatte schlecht geträumt und kaum geschlafen, aber das war kein Grund für eine Arbeitsverweigerung. Um in Fahrt zu kommen, steuerte er eine CD von System of a Down an, drehte lauter und starrte aus dem Fenster.

      Heute Abend würde Sandra kommen und ihm Jack für drei Tage da lassen. Sandra musste beruflich nach Köln und Lina würde bei ihren Eltern bleiben. Warum eigentlich? Er hätte sich gegen ihren Vorschlag wehren können. Wenn sie so weiter lebten, würde er wenig von Lina mitbekommen. Er schaute sich ihr Familienfoto auf seinem Schreibtisch an. So hatte Lina vor drei Monaten ausgesehen. Mittlerweile hatte sie sich bestimmt weiter entwickelt, und er nahm nicht daran teil. Auf Jack freute er sich. Traute er sich Lina zu? Sie allein über eine Distanz schon, aber beide über drei Tage? Nein, dennoch fühlte er sich übergangen. Sandra entschied und er fügte sich.

      Durch den dritten Kaffee am späten Vormittag und seine aufkeimende Wut, konnte er nicht arbeiten. Er verbat sich weiteren Kaffee und ging spazieren. Die Landschaft hier mochte er sehr und vielleicht bekam er den Kopf frei. Mit seinen neuen Trekkingschuhen fühlte er sich wohl. Ohnehin glaubte er, durch die beiden bisherigen Spaziergänge an ein verbessertes Körpergefühl. Kaum, dass er darüber nachdachte, musste er lachen. So ein Schwachsinn. Vor dem letzten Haus auf der rechten Seite nahm er bewusst wahr, dass der Tag weder regnerisch, neblig oder bitterkalt war. Die Luft war frisch, der blaue Himmel wies einige weiße Wolken auf, und die Sonne sorgte für ein optimistisches Licht. Auf der Straße kam ihm ein älteres Ehepaar entgegen und grüßte freundlich. Liam behielt die Pelzmütze mit Ohrenwärmern des Mannes in Erinnerung und meinte, sie häufiger in Filmen aus den 80ern gesehen zu haben. Auf dem letzten bebauten Grundstück auf der rechten Seite arbeitete ein Mann in seinem Garten und grüßte Liam. Liam konnte den Esel sehen, der einen zufriedenen Eindruck auf ihn machte, ebenso einen Bernhardiner, der hinter dem verschlossenen Gartentor hechelte. Hatte er anfangs von der Lage des Grundstücks geschwärmt, etwas außerhalb aber noch mit Anschluss an das Dorf, wäre es ihm bei all den bisherigen Ereignissen zu unheimlich gewesen.

      Sofort hatte er die blutige Hand vor Augen, die sich mehr und mehr in seinen Gedanken zu einer Katze formte. Es tauchten die Fragen auf, die er sich seither stellte. Was hatte Hübi dort zu suchen? Woher wusste er, dass der Mann als Gerichtsmediziner arbeitete? Wie bekam er Antworten, ohne mit Hübi reden zu müssen? An der Gabelung entschied er sich für den Weg zur Steinbrücke. Bisher war er nur mit dem Auto dorthin gefahren, dann wieder umgedreht, da der Weg ab da nur für den landwirtschaftlichen Verkehr freigegeben war und ins Moor führte.

      Der Weg führte ihn an mehreren winterlichen Feldern vorbei, aus der Ferne hörte er das gelegentliche Aufheulen einer Motorsäge. Durch die Nähe des Moores erklärte er sich die vielen