Vincent Voss

Faulfleisch


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Jack stand vor Aufregung auf und aß im Stehen weiter.

      »Und als was für ein Tier geht Lukas?« Liam wusste, dass Lukas in der Bärengruppe bei den Vorschulkindern betreut wurde. Jack war ganz aufgeregt, weil bald Fasching sein würde. Er hatte es bislang vergessen, aber offenbar hatte er etwas bei Sandra aufgeschnappt. Liam wäre gerne informiert gewesen, aber Sandra hatte keine Zeit und musste schnell weiter, um noch rechtzeitig einchecken zu können. Jack guckte ihn verständnislos an, seine Lippen formten stumme Töne.

      »Als was, Jack? Als Elefant vielleicht, oder als Löwe?« Es arbeitete in Jack und die erste kleine Wutfalte zeigte sich auf seiner Stirn. In diesen Momenten, so mutmaßten Sandra und er immer, dachte Jack wohl darüber nach, wie dumm seine Eltern wirklich waren. Warum sie nichts verstanden. Warum sie offenbar seine Sprache vergessen hatten und, seinem verächtlichem Blick nach, wünschte er sich intellektuell ebenbürtige Gesprächspartner. Liam musste in solchen Situationen aufpassen, dass er nicht lachte.

      »Als das Tier, Liam.« Jack schüttelte verständnislos den Kopf, der Löffel mit Honeyballs gefror in der Luft. Liam fragte vorsichtig nach.

      »Ah. O.K. Was macht das Tier denn?«

      Auf Jacks Gesicht zeigten sich Sonnenschein und Heiterkeit.

      »Also das ist so einer«, der Löffel wurde in der Schüssel geparkt, denn Jack brauchte für seine Erklärung beide Hände, »der ist ganz bleich im Gesicht, hat zwei lange Zähne hier so.« Erst zeigte Jack auf seine beiden Eckzähne, da er aber wusste, dass sein Vater manchmal begriffsstutzig war, hob er Liams Oberlippe an und drückte Liams Eckzähne.

      »Dann kann er fliegen.« Jack flatterte zwei Schritte von seinem Stuhl weg und wieder zurück.

      »Und er trinkt Blut von Menschen.« Liam wartete.

      »Und er schläft, aber das hab ich nicht verstanden, wo. Ich glaube, Lukas aber auch nicht.« Jack musterte ihn mit großen Augen.

      »Als so ein, also wie so einer will ich auch verkleidet sein, Liam, auch so mit den Zähnen.« Aus reiner Liebe zu seinem Sohn hätte er »Ja« gesagt, aber er besann sich auf eine Absprache mit Sandra.

      »Ich werde das mit Mami besprechen, und dann gucken wir mal Jack, aber weißt du, meinst du vielleicht einen Vampir?« Jack sprang hoch, es fehlte ihm die ganze Zeit dieses Wort. »Genau, das hat Lukas gesagt. Und weißt du, wie die schlafen? In einer Kiste, oder so?«

      Liam nickte. »Ja, in einer Holzkiste meistens.« Liam überlegte. »Na ja, einige auch in Kisten aus Stein«, sagte er. Jack nickte und sah aus, wie jemand, der sich über seinen besten Freund freute, weil der ihn in den Sachen, wenn es darauf ankam im Leben, nicht enttäuschte. Liam spürte das und strich seinem Sohn über den Kopf.

      »Ich hab dich lieb, Jacko.«

      »Ich dich auch, Liam.« Solche Augenblicke hätte Liam am liebsten für immer konserviert, Jack aber zog es wieder weiter.

      »Kann so ein Vampir totgehen, Liam?«

      »Du meinst, ob er sterben kann?«, verbesserte Liam unauffällig. Jack nickte.

      »Ja, Vampire können sterben.« Insgeheim hoffte Liam, dass Jack seine Fragerei einstellte, aber er glaubte nicht daran.

      »Aber ein Vampir lebt doch nicht, oder? Hat Lukas gesagt.«

      »Nein, ein Vampir lebt nicht.« Liam hatte in einem Erziehungsbuch gelesen, dass man Kindern nur erzählen sollte, was sie auch wirklich fragten. Zusatzwissen in sensiblen Bereichen würde sie verstören, deshalb hielt er sich zurück.

      »Wie kann er sich denn bewegen, wenn er nicht lebt, Liam?« Es fing die Phase an, in der er für seine Antworten länger nachdenken musste. Danach kam meistens die Phase in der er keine Lust mehr hatte und unwirsch reagierte.

      »Ein Auto lebt auch nicht, oder Jack? Und wenn es sich die ganze Zeit bewegt, dann muss ich manchmal wohin mit dem Auto. Weißt du noch wohin, Jack?«

      »Zum Tanken?«

      »Richtig. Gut, Jack. Wenn ein Auto also kein Benzin mehr hat, dann kann man es nicht mehr bewegen, also fahre ich häufig zum Tanken und gebe dem Auto Benzin. Ein Vampir braucht kein Benzin, aber was meintest du nochmal, was er trinken würde?«

      »Blut von Menschen.«

      »Genau! Das ist so was wie Benzin für Vampire.« Jack überlegte und schob sich einen Löffel Honeyballs in den Mund und Liam hoffte auf einen Waffenstillstand.

      »Lukas hat gesagt, wenn ein Vampir … wenn einer vom Vampir gebissen wird, so am Hals, da beißen sie nämlich, da so«, er nahm Liams Hand und führte sie an Liams Hals, »dann wird der auch zum Vampir. Stimmt das?«

      »Sag mal, woher weiß Lukas das alles?«, entfuhr es Liam aus Hilflosigkeit. »Phhh«, schindete er Zeit, um zu überlegen.

      »Ja«, antwortete Liam dann knapp.

      »Dann hat Lukas Recht«, nickte Jack und nahm einen weiteren Löffel zu sich.

      »Macht er das, weil er keine Freunde mehr hat, wenn er tot ist, Liam? Andere beißen?«

      »Vielleicht.«

      »Wenn ein Vampir nicht lebt, wie kann er denn sterben?«

      »Tja, das … ist gar nicht so einfach. Also sie sterben nicht von allein, sondern man muss sie töten. Menschen töten Vampire, weil sie Angst vor Vampiren haben. Aber Vampire gibt es nicht, Jacko. Nur in den Filmen, die Lukas wahrscheinlich guckt und zum Fasching.« Jack ignorierte sein pädagogisches Gefasel.

      »Wenn ein Vampir einen beißt und der auch Vampir ist, dann hat er aber einen Freund, der auch nicht tot gehen kann. Nur wenn Menschen ihn töten, oder Liam?«

      »Vielleicht.«

      »Wenn ich ein Vampir bin, beiß ich dich, Liam.« Wieder hatte Liam das Bedürfnis, die aufkommende unglaubliche Liebe zu seinem Sohn festhalten zu müssen. Und dieses war auch der letzte schöne Moment für Liam, den er so bewusst mit seinem Sohn genoss.

       Das Böse an sich und der Gerichtsmediziner

      Nichts war mehr so, wie es einst war, nachdem ich von Ambrosias Nektar gekostet hatte. Der Rausch der Ekstase verwischte konkrete Erinnerungen in mir, Bilder zogen wie Nebelschleier an mir vorbei und zeigten ein opulentes Mahl der Liebe. Ähnlich wie ein guter Wein, doch überaus besser, musste auch hier die richtige Zeit nach dem Entkorken genossen werden. Nach dem ersten Biss und meiner ersten Unbeherrschtheit durch die Macht des Genusses, liebkoste ich zärtlich. Den Geruch, den Anblick, den Geschmack, die Konsistenz. Und die Wirkung. Alles andere verblasste im Vergleich, alles andere kam diesem Einen nicht nahe. Eingemacht und ausgekocht. Gekühlt. Gebraten. Nichts ging über diese neue Erfahrung und fast fürchte ich mich, den Zustand zu benennen: ROH. Lebendig. Magisch temperiert. Einen Tanz mit Bacchus und Odysseus gleich, trieb ich nach dem Erwachen in nebeligen Gewässern und suchte nach Erinnerungen, die wie Inseln aus dem Nichts auftauchten und wieder verblassten. Und die Sirenen besangen nun mein unstillbares Verlangen nach Ambrosia. Süß und schaurig.

      Pan lag neben mir. Apollon war verschwunden. Mein Ambrosianektar lag verstreut in mehreren Zimmern und zahlreiche Spuren besangen jetzt noch meine Besinnungslosigkeit. Es sah nach einem Tanz aus, nach einem Fest und überall war der kostbare, rote Wein verschüttet worden. Nun oxidierte er, aber der gute Geruch, sein Bouquet, lag noch in der Luft.

      Und auch den Tag nach dem Erwachen erinnere ich gern. Aufräumen, sauber machen, desinfizieren, entsorgen, Apollon suchen. Alles war neu. Ich war neu. Nicht mehr menschlich, denn meine Kraft, meine Vitalität war unermesslich. Die pure Energie drohte aus mir herauszubrechen. Sie brüllte und wollte verwendet werden. Sie war wie ein wildes Tier und ich gestehe, ich tat etwas, wofür ich mich durchaus schäme: Ich wurde bei einer Prostituierten vorstellig. Noch am gleichen Abend meines Erwachens. Übrigens fehlten mir die Erinnerungen von zwei vollen Tage.

      Und es war, nun ja, überzeugend. Noch nie zuvor hatte ich über solch ein Stehvermögen