Vincent Voss

Faulfleisch


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mächtig.

      Ich meldete mich krank. Die Nacht war zu kurz und heftige kurze Traumsequenzen ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Am Morgen plagten mich Magenkrämpfe. Der Chefarzt empfahl mir, mich doch mal gründlich durchchecken zu lassen. Ich erinnere mich nicht, ob ich ihm nicht das Gleiche anriet. Den ganzen Tag verbrachte ich mit grippeähnlichen Symptomen im Bett. Gliederschmerzen, Schüttelfrost, Kopfweh, Mattigkeit. Das einzige was ich zu mir nahm, war Leitungswasser. Mit dem Einbruch der Dämmerung kam Apollon zurück und offenbar war er in der kurzen Zeit gewissermaßen verwildert. Pan unterwarf sich ihm und es waren einige Einheiten körperlicher Züchtigung vonnöten, um Apollon verständlich zu machen, wer am Ende der Nahrungskette stand. Seitdem hielt er sich im Haus versteckt. Egal. Ich bin zu schwach, um mich ihm weiter zu widmen. Die ganze Zeit über friere ich und selbst ein Feuer in dem Bollerofen in der Küche kann mich nicht erwärmen. Ich habe Hunger aber keinen Appetit.

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      Bin aufgewacht. Habe Untertemperatur. Sämtliche Symptome deuten auf eine Hypothermie. Ich habe aber keine Erklärung für die Ursache. Was habe ich in den zwei Tagen gemacht? Die Magenschmerzen nahmen zu und entwickelten sich zu Krämpfen, habe versucht, eine Scheibe trocken Brot zu essen, ich habe sie aber nicht runter kriegen können. Der Geschmack beim Kauen löste sofort einen Brechreiz in mir aus. Etwas anderes wallte aus dem tiefen Nebel meiner Empfindungen in diesem erbärmlichen Zustand empor: GIER.

      So wie geschrieben, fühlt es sich an. Mächtig.

      Ich suchte nach den Resten meines bacchischen Festes, aber das Gefundene war verdorben. Einiges hatte ich eingefroren, ich taute es unter warmem Wasser auf und verlor die Beherrschung, als sich der erste Plastikbeutel, warm und weich, wie ein OPFER in meiner Hand anfühlte und der süße Geruch BLUT in meine Nase stieg. Ich riss den Beutel auf und grub meine Zähne in das weiche Fleisch eines ehemaligen Unfallopfers aus der Klinik. Bedauerlicherweise war nur das äußere Fleisch aufgetaut, darunter war es vereist. Ich nagte an OPFER herum und ich beruhigte mich etwas. Es wärmte mich von innen und die Lebensgeister kehrten zurück. Ich nutzte die Zeit des Auftauens damit, meine Vorräte einzuschätzen. Es war zu wenig HUNGER, wahrscheinlich konnte ich mich ein, zwei Tage damit bevorraten. Außerdem, analysierte ich, während ich auf warmem, aufgetautem Fleisch kaute, war es nichts im Vergleich zu lebendigem Fleisch. Es ging mir etwas besser, aber nicht gut. Ich wusste was ich brauchte, und zeitgleich mit dieser Erkenntnis verschwanden die Zweifel, die zuvor mit leiser und undeutlicher Stimme warnten und mahnten. Glücklicherweise, oder war es Fügung, übte ich einen Beruf aus, der mich mit allem für mich Lebensnotwendigen versorgen konnte. Ich musste mir nur Arbeit mit nach Hause nehmen.

      Von der Einfachheit dieser Lösung euphorisiert, stieg ich ins Auto und fuhr in die Gerichtsmedizin. Ich unterschätzte meinen Zustand. Die Autofahrt zermürbte mich schier, ein kleiner Stau zwischen Schnelsen-Nord und Stellingen führte zu einer Panikattacke. Meine Körpertemperatur nahm merklich ab, dennoch schwitzte ich und mein Herz raste vor Angst. Ich fühlte mich gefangen und vor allem in einer Situation, in der ich keine Hilfe von außen erwarten konnte. Folglich strengte es mich außerordentlich an, die Fassade eines im Stau gestressten Arztes mit einem langweilig normalen Leben aufrecht zu erhalten. Nach meiner Wahrnehmung war ich ein Blickfang und mir wurde über Gebühr viel Aufmerksamkeit zuteil. Überall registrierte ich verstohlene Blicke, ein Handwerkerbus schien mir sogar eine Zeit lang bewusst mein Tempo zu halten, so dass ich von den Insassen auf dem linken Fahrstreifen sorgsam beobachtet werden konnte. Meine Unsicherheit führte in der Tat zu einigen Übersprunghandlungen, ich nestelte an meinem Radio herum und täuschte eine konzentrierte Sendersuche vor, und mehrmals schaute ich gestresst auf meine Armbanduhr, um mein Erscheinungsbild zu rechtfertigen.

      Meine Unsicherheit änderte sich mit den ersten auftauchenden Bildern in meinem Kopf. Stadteinwärts stand ich an einer Ampel mit langer Rotphase und neben mir starrte mich ein junger Mann aus seinem Fahrzeug an. Ich suchte nach meinem Handy, um mit ihm als Instrument eine neue Darstellung inszenieren zu können, als ich den jungen Mann vor meinem Auge blutend sah. OPFER. Und ich kann sagen, die Redewendung, sich wie vom Blitz wie getroffen zu fühlen, bewahrheitete sich in diesem Augenblick für mich und ich verharrte stocksteif und sog innerlich das sich mir gezeigte Bild ein. BLUT. Wohl sehr langsam kam ich wieder in eine aufrechte Position. Analysierend. Meine Körpertemperatur war wohl sehr niedrig, die Herzfrequenz hatte sich stark verlangsamt, aber ich fühlte keine Panik mehr. Vielmehr Ruhe. GIER. Ich drehte meinen Kopf zu dem jungen Mann und ich konnte ihn FLEISCH riechen. Er wendete sich schnell ab und konzentrierte sich auf die Ampel, während ich an ihm meine neuen Sinne testete und ein Gefühl sich empor arbeiten vernahm. HUNGER.

      In meinem Büro schwankte ich zwischen beiden Zuständen und es hätte mich fast zerrissen. Meine Arbeitskollegen grüßten verhalten, waren aber doch stark verwundert über mein Erscheinen und meine Erscheinung, an der sich offenbar etwas verändert haben musste. Mein Vorgesetzter, der mir einen Urlaub empfohlen hatte, war zu einer Konferenz nach Zürich gereist. Ich ahmte einen gewöhnlichen Arbeitstag an einem Sonntag nach, brühte mir einen Kaffee auf, fuhr den Rechner hoch und stierte in den Innenhof auf der Suche nach Normalität. In Ruhe sitzend, ohne Mitmenschen war es weniger anstrengend. Allerdings musste ich schon mein Verhalten rechtfertigen. Ich schaute in meinen Posteingang und die aktuellen Eingänge der letzten drei Tage. Brünner hatte mich vertreten und es sah nach gewöhnlicher, stressiger Routine aus. Er arbeitete die Fälle nach Dringlichkeit und höchster Verweildauer ab. Drei aktuelle Eingänge, ein Verkehrstoter, ein Suizid, eine Verstorbene aus einem Altenheim, wo die Hinterbliebenen den Verdacht der Unterlassung äußerten. Brünner arbeitete gerade an einer im Wald gefundenen Leiche unbekannter Herkunft. Die Kripo machte Druck.

      Langsam ließ meine Konzentration nach und ich spürte wieder, wie meine Körpertemperatur sank. Wie Angst zu Panik wurde und kalter Schweiß perlte. Wie sich mein Herzschlag verlangsamte. Ich drehte die Heizung hoch und versuchte, eine entspannende Position in meinem Bürostuhl einzunehmen.

      Es war einfacher, sich gelegentlich etwas von hier mitzunehmen, als nun hier zu sitzen und langfristig zu planen. Die Vorsätzlichkeit, mein Zustand, meine spontane Anwesenheit, alles erschwerte meine Absicht, Ambrosianektar erstreiten zu können. Es erschien mir unmöglich, eine dauerhafte Lösung meiner Versorgung kraft meines Berufes zu finden. Ich fühlte mich im Vorfeld verdächtigt und wusste, dass schon dieser Versuch grenzwertig war. Neben meiner physischen Panik um meinen Zustand gesellte sich eine psychische Panik hinzu. Entzugsangst, will ich wohl zugeben. Aus dieser Situation heraus wog ich alles Weitere ab und dies begründete meine Unüberlegtheit in meinen Handlungen.

      Ich entschied mich für den Verkehrsunfall, da ein Erstgutachten noch ausstand und bemühte mich, den schriftlichen Bericht so unauffällig wie möglich zu fälschen. Ich kämpfte gegen meine Gier an und schloss mit ihr einen Kompromiss. Einige fehlende Teile erklärte ich durch einen irrwitzigen Hergang beim Unfallgeschehen, anderes beruhte auf Schlampigkeit. Ich kam so auf einen guten Anteil, der auch mein Verlangen HUNGER etwas stillte, mich aber nicht vollends verriet. Danach fuhr ich runter und machte mich an die Arbeit. Souverän stellte ich mich der notwendigen Kommunikation mit meinen Kollegen. Zeigte mich loyal, war schließlich aus meiner Krankheit hierher gekommen und musste dann doch wieder nach Hause. Sagte, dass ich dann versuchen wolle, den schriftlichen Kram von zu Hause aus zu bearbeiten. Hoffte, dass das die große Tasche und die Säcke erklärte. Auf der Fahrt nach Hause fuhr ich nahe Wilstedt in ein kleines Waldstück und gönnte mir eine Innerei. Ziemlich frisch. Das beruhigte mich.

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      Nun liege ich hier. Kann mich kaum noch bewegen. Glaube, dass es bald vorbei ist. Keine Vorräte mehr und meine Körpertemperatur wollte ich nicht mehr messen, denn alles, was ich fühle, kenne ich aus meinem Studium. Die Symptome sind klar, die Ursache ist mir ein Rätsel. Ich sterbe. Kann das die Folge davon sein? Das kann ich mir nicht vorstellen. Oder doch?

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