Vincent Voss

Faulfleisch


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aus denen Triebe meterhoch in die Höhe sprossen. In den Astlöchern und den morschen Baumstammhöhlen konnte er Dinge für Jack verstecken, wenn sie den Weg gemeinsam erkunden würden.

      Eine Joggerin kam ihm entgegen. Ihr Laufstil und ihre zu erahnende Figur machten ihn neugierig. Freundlich aufgeschlossen suchte er ihren Blick, um sie zu grüßen. Er schätzte sie auf Mitte Vierzig. Nicht sein Alter, aber sie war attraktiv. Er stellte sich Sex mit ihr im Freien vor und litt deswegen unter seinem Gewissen. Den nächsten Kilometer bis zu einem Fichtenwald auf der linken Seite verbrachte er damit, gegen eine Erektion und eine Wiederholung der Vorstellung vor seinem geistigen Auge zu kämpfen. Liam wurde wütend, denn er hatte den Weg nach draußen gesucht, um den Kopf frei zu bekommen, stattdessen erwischte ihn ein neues Thema mit aller Heftigkeit. Oder aber ein altes Thema, das erst alles verursacht hatte. Seit mindestens einem Monat waren sie nicht mehr zärtlich zueinander gewesen und vorher, so hatten Sandra und er einmal festgestellt, hatten sie durchschnittlich dreimal Sex in der Woche. Er verdrängte den Gedanken.

      Er bewunderte die Urtümlichkeit. Große Fichten mit dicken Stämmen bildeten den Wald. Etliche mittelgroße Bäume verrotteten am Boden oder waren umgeknickt und wurden durch ihre Nachbarn gestützt. Direkt am Weg stand ein Wildfutterhäuschen, in dem angenagte Maiskolben und Möhrenstumpen lagen. Auf der anderen Seite des Weges genoss er einen phantastischen Ausblick auf die Wiesen im Alstertal und dahinterliegend begrüßte ihn ein entlaubter, stark verästelter Wald. Dort begann das Moor. Eine Sitzbank lud zum Verweilen ein und zahlreiche Zigarettenstummel zeugten von Besuch. Zielsicher sah Liam eine aufgerissene Kondomverpackung vor dem Mülleimer. Er lächelte. Am Boden festgefroren und im Sommer oder im warmen Herbst zum Einsatz gekommen und kaum, dass er daran dachte, wallte das Verlangen in ihm auf. Er seufzte entnervt und setzte seinen Weg zur Steinbrücke, die man von hier aus schon sehen konnte, fort.

      Ein älteres Paar fuhr auf Fahrrädern an ihm vorbei, man grüßte sich. An der Steinbrücke lehnte Liam sich auf das Geländer und erfreute sich an dem uneingeschränkten Blick über die Alsterebene, das Moor und die kleinen Waldflecken hier und da. Weit am Horizont, flussaufwärts, musste eine Straße oder ein Weg entlangführen, denn ein Auto kreuzte dort seinen Blick. Er grinste. Die Rehherde, bestehend aus fünf Tieren, stand quasi vor seiner Nase auf einer Wiese. Er war ein Stadtmensch, sein Blick noch nicht geschult. Er beobachtete die Rehe, ein allein am Himmel in der Luft stehender Vogel zerteilte die nicht unangenehme Stille mit einem Schrei. Liam atmete tief durch.

      Auch, wenn sein erster Spaziergang intensiver, im Geiste eines Pioniers spannender war, entspannte er sich, als einer von anderen vormittäglichen Spaziergängern. Er hatte einen Job, in dem er sich leisten konnte, hier zu sein (ein unangenehmes Druckgefühl breitete sich in seiner Magengegend aus und er verdrängte den Gedanken schnell) und alle anderen, denen er begegnete, befanden sich in einer ähnlichen Situation. Wahrscheinlich trank das Spaziergängerpaar zu Hause einen Tee und die Joggerin duschte. Er seufzte und unterwarf sich dem Verlangen, indem er sich einfach hinzu vorstellte und sie von hinten nahm. Den Wind und seine Vorstellungen genießend, irritierte ihn etwas, was er in der Ferne sah. Ein Geländer ragte dort kaum sichtbar aus dem welken hochstehenden Gras hervor. Flussaufwärts befand sich eine weitere Brücke. Die Brücke, von der er in den Fluss gepinkelt hatte. Es könnte sein. Wenn dem so war, musste auch das Haus, wo er den Mann mit dem Gummiball im Mund getroffen hatte, zu sehen sein. Er suchte den Horizont ab.

      »Wo bist du?«, flüsterte er. Jemand sprang ihn von hinten an, etwas legte sich auf seine Schultern. Zwei Hände, aber es passte nicht. Bevor er reagieren konnte, hörte er ein Hecheln. Er drehte den Kopf und wähnte sich im heißen Atem eines großen Hundes, der sich an ihn lehnte. Die Zunge hing heraus, seine dunklen Augen blickten Liam erwartungsvoll an und der Atem roch nach verdautem Pansen. Das Tier kam ihm bekannt vor. Liam wurde angesichts der Größe des Tieres schlecht und die Nähe zu seinem Hals bereitete ihm Unbehagen.

      »Verdammt, wer bist du denn?«, fragte Liam beruhigend und suchte aus den Augenwinkeln nach einem Verantwortlichen für das Viech. Der Hund hechelte warme Pansenluft in Liams Gesicht, hüpfte auf seinen Hinterpfoten näher, um besseren Halt zu gewinnen. Schlammigmodrige Pfoten tasteten auf seiner hellblauen Skijacke umher. Liam verbat sich, aus Wut ungestüm zu reagieren. Den Hundehalter würde er am liebsten wie den falsch parkenden Geländewagenfahrer beißen. Hinter dem Hund sah er am Flussbett eine Bewegung, ein Pfiff erschallte und Hübi trat hinter ihm unter der Brücke hervor auf die Straße. »Komm her, Teufel!«, schrie er dem Hund zu und Teufel ließ ängstlich von Liam ab und schlich zu Hübi. Hübi erwartete Teufel mit einer Leine in der Hand. Er packte den Hund am Halsband, hielt ihn mit der linken Hand fest und drosch mit dem Lederriemen auf Teufel ein. Teufel winselte und wollte sich auf den Rücken drehen.

      »Was willst du hier? Verfolgst du mich, oder wie?« Mit Teufel an der Leine kam Hübi drohend auf Liam zu. Liam war sprachlos. ›Ich sollte ihn beißen‹, schoss es Liam durch den Kopf. Aber er stand mit halboffenem Mund da und fühlte sich wie ein Passagier in sich.

      »Nein, ich, also ich … hatte nur den Kopf voll und …«

      Hübi stand vor ihm und wollte Liam den Schmutz von der Jacke klopfen. Stattdessen rieb er sie durch seine groben Bemühungen stärker ins Textil ein.

      »Scheiß Köter, tut mir irgendwie Leid«, gab er umständlich von sich. »Musst du kalt waschen.« Er deutete mit einem Zeigefinger auf Liams Schultern.

      Liam war pessimistisch. Die Jacke konnte er wegwerfen. Hübi klopfte ihm ein weiteres Mal auf die Schulter.

      »Ist gut jetzt!«, ließ Liam seinem Frust freien Lauf und wich Hübis klopfender Hand zur Seite aus.

      »Hey, ganz locker«, brummte Hübi. Liam begriff, dass Hübi auf Konfrontation immer einen Gegenangriff startete. Wahrscheinlich hatte er angesichts seiner Körpergröße und seiner Ausstrahlung damit auch Erfolg. Hübi pumpte sich auf und stand latent drohend vor Liam.

      »Schon O.K., wusste gar nicht, dass das euer Hund ist«, beschwichtigte Liam und deutete auf Teufel, der eingeschüchtert hinter Hübi kauerte. Hübi nickte und entspannte sich.

      »Na wie auch, gab Ärger im Kindergarten, weil Teufel die Lütten immer umgerannt ist und die Schiss hatten. Macht aber nix, der will nur spielen.«

      Liam konnte sich die Ängste der Kinder vorstellen, wenn ein riesiger Hund, sich Urviech gleich mit heraushängender Zunge auf sie stürzte. Teufel traute sich hervor und hechelte.

      »Sag mal, was hast du denn da hinten eigentlich letztens gemacht?«, wollte Liam wissen und beobachte Hübi genau, um seine Reaktion abschätzen zu können.

      »Ich kauf’ da immer für die Schröters ein, weissu. Die wohnen da ganz allein, und der Alte traut sich nicht mehr, mit dem Auto zu fahren. Manchmal kommen die beiden mit, aber häufig nur sie. Manchmal mach’ ich da auch was im Haus, aber eigentlich wollen die immer alles alleine machen, weissu. Im Sommer hab ich mal ’nen Anruf von ihr bekommen, ob ich mal vorbeikommen kann, sie hat Kuchen gebacken. Und dann bin ich da hin und frag’, wo er denn ist und sie meinte so, im Garten, sie ham Probleme mit dem Brunnen. Und dann hab’ ich mir das mal angeguckt und da ist der Alte sechs Meter mit seinem kaputten Knie in den Brunnenschacht gekrochen und wollte die alte Brunnenpumpe auswechseln. Alter, der ist über Achtzig! Und da kam er nicht hoch. Aber zu stolz für, um Hilfe zu holen, echt!«, berichtete Hübi und nickte dabei dem Alten bewundernd zu.

      »Na ja, ich hab’ die dann ausgewechselt und sie hat noch schnell ’nen Kuchen hingekriegt, weissu, die hatte gar keinen, hatte aber Schiss um den Alten, verstehste?«, Hübi erklärte ihm die Sachlage gestikulierend.

      »Ja, schon heftig«, bestätigte Liam. »Bist du denn irgendwie verwandt mit denen?«, wollte er wissen.

      »Ja, umso paar Ecken, aber ich bin der einzige, der sich um die beiden kümmert, Mann. Und das mach’ ich nur so, verstehst du? Scheiß auf das Haus und das Grundstück, das will eh keiner mehr haben.«

      Liam nickte, bezweifelte aber Hübis Uneigennutz. »So, ich will mal wieder, ne«, verabschiedete sich Hübi.

      Liam schätzte, dass Hübi nach eigener Einschätzung schon viel zu viel von sich erzählt hatte, aber er wollte in Erfahrung bringen, was es mit dem Gerichtsvollzieher