Vincent Voss

Faulfleisch


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      Ein stummer Schrei, denn Tote haben keine Stimme mehr. Ein Schrei, der bei den Tätern verklingt, ein Schrei, der sich auf für uns nicht wahrnehmbaren Frequenzen auf die Reise macht. Wellenförmig, immer neue Impulse, neue Schreie aufnehmend, setzte sich der eine Schrei fort.

      Stell dir vor, dieser Schrei erzeugte Materie. Wie würde sie aussehen? Wie würde der Schrei von gefoltertem, verbranntem, ertrunkenem, erschlagenem, erhängtem, erschossenem, vergastem, überfahrenem, verhungertem und wie auch immer aus dem Leben gerissenem Fleisch wohl aussehen? Wie sieht Schmerz, Wut, Hass, Trauer und unzählige Ohnmacht aus? Wenn sie ausbricht? Stell dir das mal vor …

      Kann ich den spielen, oder muss ich den abknallen? – Enrico

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      Ich habe mich schon in jungen Jahren für Knochen interessiert. Für Knochen und Fleisch, beides lässt sich bekanntlich nicht so einfach voneinander lösen. Als ich sieben Jahre alt war, sind wir an einem smogfreien Tag in einen Wald gefahren und ich fand eine Kröte, die am Wegrand verharrte. Da sie nicht weghüpfte, nahm ich sie in die Hand und sie brach auf. Sie war tot. Leichenbesiedler hatten sie schon ausgehöhlt und tropften von dem Krötenkadaver zu Boden, auf meine Schuhe und in meine Hand. Ich kann nicht sagen, dass ich das schön fand, vielmehr bekam ich dadurch Albträume und machte mir kindliche Gedanken über das Leben und den Tod. Der Präventivpsychologe an unserer Grundschule sah für meine Entwicklung aber keine Gefahr. Meine Eltern sorgten durch ihre Berufe und ihren Bildungsgrad für einen niedrigen Aggressionsscoringwert für mich, sodass meine Neigung für das Knochensammeln für frühkindlich paläontologisches Interesse gehalten wurde.

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      Mit zehn Jahren kam ich auf eine Eliteschule mit dem Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Fächer. Meinen ersten Sex hatte ich ziemlich spät, so mit vierzehn Jahren. Mit fünfzehn Jahren ließ ich mir das Schulterblatt eines Hasen mit Blattgold überziehen und trug es als Glückbringer mit mir. Ich habe es immer noch, es dient jetzt als Lichtschalter für das Gäste-WC. Ungefähr zu dieser Zeit kochte ich in meiner Internatswohnung auch die ersten Knochen aus. Ich fing mit Katzen an, denn die waren einfach zu besorgen. Die Schule lag im Nordosten Hamburgs in Alsternähe. In den Grünanlagen konnte ich in den dunklen Abendstunden unauffällig Katzen anlocken und schnell töten. Darauf kam es an, denn eine gequälte Katze konnte so laut und vor allem menschlich schreien, dass es unnötige Aufmerksamkeit erregt hätte. Diese Aktionen plante ich so, dass es sicher war, dass weder Jonas, mein Mitbewohner, noch Nura, mit der ich zu der Zeit zusammen war, anwesend waren. Ich hatte mir einen großen Topf aus einem Geschäft für Gastronomiebedarf zugelegt. In diesen passte wunderbar eine ausgewachsene Katze hinein. Nach den ersten zwei Fehlversuchen informierte ich mich über das Internet und häutete die nächsten Versuchstiere. Eine einfache Katze benötigte so in etwa zweieinhalb bis drei Stunden Kochzeit, ehe sich die Knochen gänzlich und ohne Rückstände von den Muskelfasern lösen ließen.

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      In einem Blog, der sich mit dem Auskochen von Knochen beschäftigte, lernte ich Thanatos kennen, einen jungen Juristen aus München, der vorgab, ein menschliches Schlüsselbein ausgekocht zu haben. Ich freundete mich mit ihm an. Sein fachliches Steckenpferd war die freie Durchführung von Selbstverstümmelungen, die bislang noch unter Strafe stand. Außerdem hatten wir beide ähnliche sexuelle Neigungen, die ich mit Nura nicht besprechen wollte.

      Mit Siebzehn schloss ich mein Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,3 ab und bekam gleich mehrere Firmenangebote. Ich entschied mich jedoch für ein Förderstudium und schrieb mich für Medizin ein.

      Während meines ersten gemeinsamen Urlaubs mit Nura an der norwegischen Nordseeküste, fanden wir einen gestrandeten Walkadaver. Er roch unangenehm streng und elektrisierte mich, denn die Gelegenheit, einen Walknochen auszukochen, erschien mir für mein Leben einzigartig. Als ich mich anstrengte, um zumindest die Fluke, die große Schwanzflosse, zu bergen, verließ mich Nura noch am selben Abend. Insgesamt war es ein riskantes Unterfangen. Gefährliche Springfluten waren an dem Küstenabschnitt keine Seltenheit und ich war auf mich allein gestellt. Den Nachfragen meiner Eltern zu den hohen Reisekosten, der hohen Nebenkosten- und Reinigungsrechnung konnte ich durch eine Lüge entkommen. Nach der Trennung von Nura ginge es mir nicht so gut, entgegnete ich ihnen und das konnten sie verstehen, ermahnten mich aber, mein Studium ernst zu nehmen.

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      Oh, Studium, was hast du aus mir gemacht! Tief durchwatete ich ein Meer aus den Kardinalsäften, gab mich allerlei Drogen hin, lernte Aleida kennen, die ich nicht liebte (sie mich auch nicht) mit der ich aber all das (na ja, das meiste) ausleben konnte, was meine männlichen Sexphantastereien so vorgaben. Dennoch litten meine Leistungen nicht darunter und die Professoren erkannten schnell meine handwerkliche Begabung, meine analytischen Fähigkeiten und meine emotionale Kühle (»Sie haben die Betriebstemperatur einer Kühlkammer, also wird es Ihnen da auch gefallen«, verabschiedete sich Professor Speckmann von mir, als ich in die Gerichtsmedizin wechselte).

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      Ein Jahr später kochte ich mein erstes menschliches Schulterblatt aus. Mittlerweile hatte ich meine eigene Wohnung in Hamburg Uhlenhorst. Ein Junkiemädchen hatte sich tot gefixt und niemand wusste, wo sie herkam. Anonyme Bestattung – keine Nachfragen. Ich präparierte ihren Körper möglichst ansehnlich und half den beiden Bestattern persönlich, die Leiche zu übergeben. Ihren kompletten Arm mit Schulter transportierte ich in meiner großen Sporttasche nach Hause. Ein paar Fehler im Abschlussbericht und Unachtsamkeiten im Übergabeprotokoll hätten mir bei aufkommenden Nachfragen die Möglichkeit verschafft, den Sachverhalt zu meinen Gunsten zu klären. Aber niemand scherte sich um die Unversehrtheit einer Drogenleiche.

      Zum Auskochen puschte ich mich mit Kokain hoch, die Droge versprach, mein neuer Liebling zu werden. Ich hörte Orpheus und versank in der sich vor meinen Augen verändernden Tätowierung auf ihrem Oberarm. Sie tauchte aus dem Topf auf und verschwand, kräuselte sich, verschwand, tauchte wieder auf. Ein Ziegenkopf mit gelben Augen. Und verschwand. Mit einem Löffel stupste ich den Ziegenkopf und er starrte grimmig aus dem Blasen werfenden Wasser zurück. Er senkte die Hörner und versank. Das erste Stück Fleisch trieb oben auf. Ein Zittern vor Glück erfasste mich, Orpheus wurde von schnellen Streichern zerrissen und ich tauchte den Löffel in das kochende Wasser und füllte ihn. Ich konnte mich kaum kontrollieren und verschüttete das meiste, aber etwas davon gelang in meinen Mund. Ich explodierte innerlich, wurde auch zerrissen und wieder angeschwemmt, wie Orpheus. Ich hatte es gewagt, einen Blick zu weit zurück zu werfen. Der Löffel glitt aus meiner Hand und ich setzte mich. Lachte und hoffte, dass ich diesen Moment mit niemandem teilte.

      Mandy, wie ich sie für mich nannte, verbarg ich in meiner Schreibtischschublade. Ihr Schulterblatt. Eine kräftige Brühe von ihr fror ich ein und etikettierte das Glas mit »OMI 08«, denn meine Großmutter vermachte mir nach Gute-Erziehungs-Besuchen meinerseits immer Eingemachtes.

      Thanatos erzählte ich einiges, aber nicht alles. Er gratulierte mir und teilte mir mit, dass er einen Klienten vertrat, der sich selbst aufessen wollte. Die Finger seiner linken Hand hatte er sich abgeschnitten und verspeist. Nun wollte er einer Einweisung in eine psychiatrische Klinik entgehen und verwies auf sein Recht eines selbstbestimmten Lebens, dass eine Selbstverstümmelung mit anschließendem Verzehr rechtfertigte, denn es handelte sich dabei nicht um einen Suizid, der strafbar war, sondern im weitesten Sinne um eine Körperverschönerung und eine religiöse Handlung. ›Wie krank muss denn der Klient von Thanatos sein‹, dachte ich mir und machte mir Gedanken.

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      Mit dem Namen Kronos führte mich Thanatos in die Community ein. Kronos, der jüngste der Titanen, der seine eigenen Kinder verschlang. Aus Angst davor, von seinen Kindern gerichtet zu werden, wie ihm prophezeit wurde. Auch ich verschlang meine eigenen Kinder, mein eigenes Geschlecht, meine mir anvertrauten