Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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Gesprochene wieder hörbarLautstärkehörbar gemacht.1 So richtig es ist, dass man aus der Antike zahlreiche Quellen findet, in der GeschriebenesSchriftGeschriebenes in verschiedensten Formen mit einer engen Relation zur StimmeStimme, zum Gesprochenen gestellt wird,2 eine generalisierende Schlussfolgerung zum „lautenLautstärkelaut“ oder „leisenLautstärkeleise“ Lektüremodus lässt sich daraus aber gerade nicht sicher ziehen.

      Die Quellen, die Busch heranzieht, um zu zeigen, dass legere generell das Wieder-Hörbarmachen des Gesprochenen, also die Re-realisierung von Klang meint, bzw. die Verknüpfung von Lesen und der richtigen Aussprache, stammen aus rhetorischen Lehrbüchern (Quint.Quintilian inst. or. 1,7,24–35 u. ö.; Cic.Cicero, Marcus Tullius orat. 44,150) und beziehen sich auf das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt, das freilich mit der vokalen Re-Oralisierung des Textes verknüpft ist. Eine allgemeine Lesedefinition wird damit jedoch nicht gegeben.3

      Denn prinzipiell erscheint auch bei einer individuellen, „leisenLautstärkeleise“ Lektüre ein solches „Wieder-Hörbarmachen“ der durch die Schrift repräsentierte menschliche StimmeStimme (Quint.Quintilian inst. or. 1,7,30f als locus classicus) denkbar – dann aber im Kopf des LesersLeser. Dass diese Möglichkeit überhaupt nicht bedacht wird, führt dazu, dass man auch nicht nach den entsprechenden Quellenbelegen sucht. Eine feste Interdependenz zwischen dem, was Schrift aus der Sicht antiker SprachphilosophiePhilosophie repräsentierte, und einem Normalmodus des Lesens sollte man in jedem Fall nicht a priori postulieren. Zudem müsste man weiter fragen, ob Schrift (insbesondere in Texten) in der Vorstellung der antiken Menschen ausschließlich Gesprochenes repräsentierte oder ob das Repräsentationsverständnis nicht doch mehrdimensionaler war. Hinzuweisen ist diesbezüglich auf die differenzierte und durchaus kontrovers diskutierte Schriftauffassung in der Antike. Kristallisationspunkt der Debatte ist die Frage, ob das Schriftverständnis von Aristoteles (vgl. insb. Aristot.Aristoteles int. 1 [16a3–18]) phonographisch zu verstehen oder semiotisch konzeptualisiert ist bzw. ob er die Schrift der Stimme hierarchisch unterordnet oder gleichwertig zugeordnet.4

      Zudem ist Folgendes zu bedenken: Der Seh- und HörsinnSehen war für die griechische Kultur gleichermaßen wichtig, wobei jedoch dem Sehen in der philosophischenPhilosophie Diskussion grosso modo ein leichter (erkenntnistheoretischer) Vorzug zugebilligt wird.5 Daher sollte gerade die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Lesen und Sehen unbedingt bei der Erforschung des Lesens in der Antike berücksichtigt werden. Daraus ergibt sich als erste Teilfrage für die vorliegende Studie, welche Rolle Verben der visuellenvisuell Wahrnehmung für die Beschreibung von Lesen in den Quellen hatte.

      1.3.2 Die Frage nach dem Zusammenhang von Schriftsystem und Lesepraxis

      Eng verbunden mit der These, dass GeschriebenesSchriftGeschriebenes in der Antike Gesprochenes repräsentiere, wird sodann postuliert, dass die ohne WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) und Satzzeichen geschriebenen antiken Texte (scriptio continuaSchriftscriptio continua) wegen der erschwerten visuellenvisuell Dekodierung für die „lauteLautstärkelaut“ Lektüre vorgesehen waren; also auch das SchriftsystemSchrift-system den „Normalmodus“ des lauten Lesens belegte.1 Hier besteht die methodische Gefahr, die Schwierigkeiten bzw. visuellen Dekodierungsherausforderungen, die ein moderner LeserLeser mit dem Lesen von lateinischen und griechischen Texten (also nicht seiner Muttersprache) in scriptio continua hat, in die antiken Leser hineinzuprojizieren,2 wie es in der Forschungsliteratur zum Teil sogar explizit getan wird.3 So sind die modernen Leser kulturell mit Worttrennungen aufgewachsen und haben die LeseweiseLese-weise mit Worttrennungen habitualisiert; für einen modernen Leser ist es nicht möglich, den LesesozialisationsprozessLese-sozialisation (s. auch Schriftspracherwerb) eines antiken Lesers, der von Beginn an mit in scriptio continua geschriebenen Texten aufgewachsen ist, nachzuempfinden, geschweige denn aufzuholen. Zudem basiert die These – insbesondere in der Ausformulierung P. Saengers – auf zahlreichen unzulässigen Generalisierungen und übergeht sowohl wichtige handschriftliche Evidenz als auch den Charakter vieler Publikationen aus der Antike – insbesondere großer wissenschaftlicher Nachschlagewerke oder anderer sehr umfangreicher Werke, die einen anderen Rezeptionsmodus voraussetzten.4 Diese forschungsgeschichtliche Ausgangslage macht es notwendig, im Rahmen dieser Studie den Zusammenhang zwischen Schriftsystem und LesepraktikenLese-praxis erneut zu untersuchen (s. u. 4).

      1.3.3 Die Frage nach der Literalität antiker Gesellschaften

      Der Normalmodus der lautenLautstärkelaut Lektüre wird damit in Verbindung gebracht, dass in der Antike von einem eher geringen Grad an LiteralitätLiteralität/Illiteralität auszugehen sei. Einerseits seien viele LeserLeser auf einer nur relativ vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend Lektüre anzusiedeln, für die das Lesen von scriptio continuaSchriftscriptio continua erst recht erschwert gewesen sein müsse;1 vor allem aber hätten viele Menschen in der Antike überhaupt nicht lesen können und waren darauf angewiesen, dass jemand ihnen vorliest.2 Daraus leitet sich dann auch die oben besprochene These ab, dass Texte im frühen ChristentumChristentum in der „gottesdienstlichenGottesdienst“ Versammlung vorgelesen werden mussten. Die Frage nach dem Grad der Literalität in antiken Gesellschaften für die Frage nach einem Normalmodus des Lesens ins Feld zu führen, ist m. E. in methodischer Hinsicht mit Schwierigkeiten verbunden, die insbesondere in der Diskussion um zahlenmäßige Quantifizierungen der LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) in der antiken Welt deutlich wird, die zuletzt in eine Aporie führt.3

      Die mit Sicherheit einflussreichste Studie ist in dieser Hinsicht die 1989 erschienene Monographie „Ancient Literacy“ von W. V. Harris, dessen Ergebnis v. a. in weiten Teilen der anglophonen Forschung zu OralitätMündlichkeit und der Frage nach dem Lesen usw. als sicheres Wissen (häufig deutlich weniger differenziert als Harris das Ergebnis selbst darstellt) rezipiert wird.4

      Die Studie von Harris spielt auch eine wichtige Rolle im Rahmen der immer noch breit geführten Diskussion um die Frage nach der Lese- und Schreibfähigkeit des historischen JesusJesus; und zwar bildet die von Harris geprägte Sicht das entscheidende Argument für die Vertreterinnen und Vertreter, die die Lese- und Schreibfähigkeit des historischen Jesus anzweifeln.5 Als weitere Argumente wird auf den redaktionellenRedaktion/redaktionell Charakter des lesenden Jesus in Lk 4,16Lk 4,16 und des schreibenden Jesus in Joh 8,6Joh 8,6.8Joh 6,8 verwiesen.6 Diese beiden Stellen haben tatsächlich keinen Quellenwert für die Frage nach dem historischen Jesus, zeigen aber, dass das Bild eines lesenden und schreibenden Juden aus Galiläa zumindest für die intendierten RezipientenRezipient des Lukasevangeliums bzw. der pericope adulterae eine gewissen Plausibilität gehabt haben muss.7

      Während einige ältere Studien noch zuversichtlicher bezüglich der LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) der Menschen in der griechisch-römischen Welt waren,8 zeichnet Harris ein pessimistisches Bild. Er kommt auf der Grundlage einer materialreichen Untersuchung, die aber als ausgesprochen restriktiv zu charakterisieren ist,9 zu der abschließenden Schätzung, dass in klassischer Zeit (d. h. für den Untersuchungszeitraum irrelevant) in Athen 15 % der männlichen Bevölkerung und 5 % der Bevölkerung insgesamt lesen konnten. Für Städte wie Teos kommt er jedoch in hellenistischer Zeit zu einer Schätzung von 30–40% Lesefähigen unter den freien Männern, deren Fundament im Bildungssystem allerdings s. E. im 1. Jh. v. Chr. durch die Ägäische Krise weggebrochen und auch in römischer Zeit nicht wieder aufgebaut worden wäre.10 Hier wird deutlich, dass seine Kartierung der antiken LiteralitätLiteralität/Illiteralität zuweilen von einen Geschichtsverständnis geleitet ist, das sich an einem Verfallsmodell orientiert. Für das Römische Reich selbst nennt Harris ebenfalls einige Schätzzahlen11 und fasst zusammen, dass in Städten eine höhere Lesefähigkeit vorauszusetzen und von einer regionalen Variation auszugehen sei. Für die griechische Welt des Römischen Reiches müsse man davon ausgehen, dass außer „a man of property