Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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worden sind. Dabei wird die skizzierte, weitgehend monosituative Verortung frühchristlicher LesepraxisLese-praxis in gottesdienstlichenGottesdienst Versammlungskontexten (oder performativen Lesungen in Gruppen) zur Diskussion gestellt. Es wird dabei angesichts der notorischen und der Sache inhärenten Schwierigkeiten, den Lesebegriff exakt und eng zu definieren,2 und, um das heuristischeHeuristik Raster nicht unnötig einzuengen, bewusst auf einen solchen der Untersuchung vorausgehenden Definitionsversuch verzichtet. Die Komplexität des Phänomens Lesen und seine Multidimensionalität (physiologisch, kognitionspsychologischKognitionswissenschaften, neurologisch, semiotisch, kulturell, [kultur]historisch, sozial, politisch, medien- und kommunikationstheoretisch, usw.) kommt treffend bei U. Saxer zum Ausdruck, der Lesen, anknüpfend an M. Mauss, als Totalphänomen beschreibt.3 Unter dem Stichwort „Lesen“ werden in dieser Studie im Rahmen eines breiten Verständnisses in den Quellen sichtbare Formen der InteraktionInteraktion mit (geschriebenen) Texten untersucht,4 wobei nicht der Anspruch erhoben wird, die Multidimensionalität im historischen Kontext der Antike auch nur annähernd vollständigUmfangvollständig zu beschreiben. Um der analytischen Genauigkeit willen wird jedoch, wenn Texte in Gruppen oder von Individuen nicht direkt über das AugeAugen, sondern über das OhrOhr rezipiert werden, von indirekter Rezeption gesprochen (s. u. 1.5). Zudem ist bei der Analyse antiker Quellen auch in Betracht zu ziehen, dass Lexeme, die an anderer Stelle das Phänomen „Lesen“ referenzieren, theoretisch auch bezeichnen kann, dass jemand etwas AuswendiggelerntesAuswendiglernen „vorliest“, ohne dabei ein SchriftmediumLese-medium zu konsultieren. Um eine solche Praxis zu belegen, müssten allerdings klare Textsignale vorliegen. Und – so viel ist vorwegzunehmen – der Beleg einer weiten Verbreitung eines solchen Konzepts fällt für die griechisch-römische Antike schwer.5

      Doch wie kann man Lesen in historischer Dimension beobachten, um die skizzierten Verkürzungen der bisherigen Forschung zu überwinden? Während die moderne LeseforschungLese-forschung empirisch arbeiten kann, ist die Untersuchung vergangener Lesekulturen auf die geschichtswissenschaftliche Auswertung von Quellen angewiesen. R. Darnton hat in einem programmatischen Aufsatz (erstmals 1986 erschienen) als Ordnung für eine historische Untersuchung des Lesens die Fragen nach dem Wer, Was, Wo, Wann, Warum und Wie vorgeschlagen, wobei er konstatiert, dass es für die ersten vier Fragen, die sich auf die „externe Geschichte des Lesens“6 bezögen, schon zahlreiche Antworten gäbe, das „Warum“ und „Wie“ des Lesens, also der LeseaktLese-akt selbst und seine Wahrnehmung und Reflexion durch antike LeserLeser, aber noch weitgehend unerforscht sei.7 Darnton schlägt daraufhin fünf Wege vor, um das „Wie“ des Lesens zu untersuchen: 1) Die Analyse von zeitgenössischen Darstellungen des Lesens in Fiktion, Autobiographien, Bildern etc.; 2) Die Untersuchung der „Art und Weise, wie das Lesen erlernt wurde“ bzw. die Untersuchung von LiteralitätLiteralität/Illiteralität (auch unabhängig von der Schreibfähigkeit); 3) historische Zeugnisse des Leseaktes in Form von Marginalnotizen; 4) rezeptionsästhetischeRezeptionsästhetik Ansätze; 5) Die Untersuchung von physischen Büchern und deren Typographie.8

      Dieser programmatische Ansatz weist eine Lücke auf. Und zwar besteht ein großes, bisher von der historischen LeseforschungLese-forschung ungenutztes Potential darin, die Sprache selbst, mit der über das Lesen kommuniziert und reflektiert wird, zu untersuchen. An dieser Stelle setzt die vorliegende Studie an. Für die antike griechisch-römische Welt ist dieser Ansatz nicht zuletzt deshalb vielversprechend, weil die Quellensituation insbesondere auf die von Darnton genannten Aspekte 2, 3 und 5 sowie für die Rekonstruktion einer „externen Geschichte des Lesen“ sehr viel schlechter ist als für die Zeit seit der frühen Neuzeit,9 auf welche sich die historische Leseforschung maßgeblich bezieht.

      Der Ansatz der Studie besteht darin, zunächst die Leseterminologie im Griechischen zu untersuchen, mit Seitenblicken auf das Lateinische und später auf das Hebräische. Es werden also Lexeme, die Lesen entweder direkt benennen oder indirekt charakterisieren, lexikologisch und semantisch zu untersuchen sein. Dabei wird deutlich werden, dass die Leseterminologie im Wesentlichen metaphorischMetapher und metonymischMetonymie konzeptualisiert ist. Entsprechend neuerer metapherntheoretischerMetapher-ntheorie Ansätze, die trotz ihrer Unterschiede in der Beschreibungssprache gemeinsame Linien aufweisen, wird die Metapher hier nicht einfach als rhetorisches Stilmittel bzw. ein Mittel poetischer Sprache aufgefasst. Vielmehr ist die Metapher als das sprachliche Zusammenwirken von zwei Größen zu verstehen, die unterschiedlichen Ordnungssystemen angehören. Die wichtige Einsicht neuerer metapherntheoretischer Ansichten besteht darin, dass durch das dynamische Zusammenwirken der beiden Größen in der Metapher diese etwas beschreiben, das mehr ist als die Summe der beiden Einzelgrößen. Damit nimmt die Metapher eine ganz eigene Perspektive auf das zu Beschreibende ein. Dies wiederum bedeutet im Umkehrschluss, dass sich aus der Analyse von konkreten Metaphern in Relation zum von diesen beschriebenen Referenten Erkenntnisse über diesen generieren lassen (s. u.). Diese beiden Größen, für die in der Forschung sehr unterschiedliche Bezeichnungen zu finden sind, werden in dieser Studie Bildspende- und Bildempfangsbereich genannt. Zudem wird berücksichtigt, dass Metaphern in vielfältigen grammatisch-syntaktischen Formen auftreten können, in einem jeweils spezifischen Verhältnis zu vorgegebenen sprachlichen Konventionen stehen, in ihrer Bedeutung situations- und kontextabhängig sind und in diachroner Hinsicht Wandlungsprozessen unterliegen (beschrieben z.B. als innovative, usuelle, konventionalisierte, lexikalisierte Metaphern).10 Der Unterschied zwischen Metapher und Metonymie wird in dieser Studie folgendermaßen bestimmt: Im Gegensatz zur Metapher ist der Bildspende- und der Bildempfangsbereich im Falle einer Metonymie durch eine Beziehung der Kontiguität charakterisiert, wobei dem VerfasserAutor/Verfasser die Abgrenzungsprobleme von Metapher und Metonymie wohl bewusst sind.11 Im Hinblick auf die Lesemetaphern und -metonymien lässt sich das Kriterium jedoch in analytischer Hinsicht pragmatischPragmatik recht gut anwenden, da sich die Kontiguitätsbeziehung zwischen Lesemetonymie und Lesevorgang in den meisten Fällen recht genau beschreiben lässt (z.B.: „ein BuchBuch durchblättern“ ist eine Lesemetonymie, „ein Buch verschlingen“ ist eine Metapher).

      Eine systematische Aufarbeitung der Sprache, der MetaphernMetapher und MetonymienMetonymie, die in der antiken Welt das Lesen konzeptualisiert, ist bisher nicht geleistet worden. Die Erschließung der Lese-Metaphern und ‑Metonymien in der antiken Literatur (aber auch in InschriftenInschriften und dokumentarischen PapyriPapyrus) bietet daher einen bisher nicht genutzten Zugang zur antiken LesekulturLese-kultur. Durch die Untersuchung der Leseterminologie wird eine große Fülle bisher nicht berücksichtigter Daten erschlossen, die als Selbstzeugnisse für den Lesevorgang gelten können. Insofern ist etwa auch das Diktum Bickenbachs nur teilweise richtig, dass Lesen prinzipiell unbeobachtbar sei.12 Lesen ist zwar ein flüchtiger und momentaner Akt, hat aber in der Dokumentation der Selbstwahrnehmung und der Selbstreflexion Spuren in der Sprache hinterlassen. Dem methodischen Ansatz liegt die Einsicht zugrunde, dass Metaphern und Metonymien aus kognitionswissenschaftlicher Sicht eine besondere Bedeutung für die menschliche Wahrnehmung haben.13 Diese Einsichten aus der kognitivenkognitiv Linguistik sind in den Altertumswissenschaften schon für die Erforschung von Emotionen fruchtbar gemacht worden, wie die Arbeiten von D. Cairns zeigen.14 Seine Analysen antiker Emotionskonzepte basieren auf der folgenden Grundannahme:

      “[P]roperties of emotions […] depend not just on objective processes in the body, the brain, and the world, but on the representation of the phenomenology of such processes in the intersubjective system that is language. […] Though they [i. e. the properties of emotions] exist in the shared and intersubjective system of language.”15

      Daher können antike Emotionskonzepte durch die Erschließung und Analyse von MetaphernMetapher, die Emotionen konzeptualisieren, rekonstruiert werden. Um dementsprechend der Selbstwahrnehmung des eigenen Leseprozesses auf die Spur zu kommen, ist also die metaphorisch und metonymischMetonymie konzeptualisierte Leseterminologie zu untersuchen. Die zu erwartende Heterogenität der antiken Beschreibungssprache, in der sich die Selbstwahrnehmung antiker LeserLeser kondensiert hat, reflektiert dabei die Vielfalt antiker LesepraxisLese-praxis, von Lese- und Verstehensgewohnheiten bis hin zu Lesetechniken. In methodischer Hinsicht ist zwischen lexikalisierten Metaphern, bei deren Verwendung die Metaphorizität in den meisten Fällen nicht mehr im Bewusstsein ist, und innovativen Metaphern zu unterscheiden. Das größte Erkenntnispotential im Hinblick auf die Selbstwahrnehmung des Lesens haben freilich innovative Metaphern, da diese mutmaßlich einen spezifischen Aspekt des Lesens betonen