Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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und zwar dann, wenn sie in Relation zu direkten Beschreibungen und Reflexionen antiker Lesepraxis und in Relation zur materiellenMaterialität Dimension antiker Lesepraxis gesetzt werden.

      Die Sprache, mit der über das Lesen kommuniziert wird, kann also auch nicht ohne den Bezug zur materiellenMaterialität Dimension antiker LesepraxisLese-praxis untersucht werden. Daher beginnt der erste Hauptteil der Studie (II) mit einem Überblick über die Vielfalt von LesemedienLese-medium in der Antike (2), zu denen die LeseterminiLese-terminus in Relation zu setzen sind. Darauf folgt die Darstellung der Ergebnisse der lexikologischen und semantischen Untersuchung der antiken Beschreibungssprache des Lesens, die entlang der Bildspendebereiche der metaphorischenMetapher und metonymischenMetonymie Konzepte strukturiert ist.

      Für die Untersuchung der antiken Leseterminologie selbst, deren Ergebnisse in der vorliegenden Studie dargelegt werden, wurde eine semi-automatisierte HeuristikHeuristik angewandt. Und zwar bestand die Erschließung der Lexeme, Wendungen und Konzepte aus einem Wechselspiel unsystematisch explorierender Zugänge zu den Quellen und der systematischen Anwendung von Methoden der digitalen KorpusanalyseKorpusanalyse/Kookkurrenzanalyse. Das bedeutet, es wurden erstens zunächst zahlreiche Quellen gelesen und LeseterminiLese-terminus identifiziert, sowie zweitens Übersetzungen nach modernen Lesetermini digital durchsucht, um die übersetzten griechischen (und lateinischen) Lexeme und Wendungen zu finden, die „Lesen“ konzeptualisieren. Diese Form der Heuristik wurde ergänzt durch digitale Verfahren der Kookkurrenzanalyse und der Nutzung von Vektorisierungsverfahren zur Suche von Synonymen.16 Kombiniert mit den Lexemen für LesemedienLese-medium konnten mit Hilfe dieser erschlossenen Lesetermini und Wendungen dann durch die proximity search im Thesaurus Linguae Graecae (TLG) und in der Library Latin Texts (LLT) eine große Anzahl von Quellen neu erschlossen werden, in denen Lesen in der Antike thematisiert wird.

      Der skizzierte Ansatz hat daher gegenüber Forschungsansätzen, die entweder die LautstärkeLautstärke des Lesens, die materiellenMaterialität Zeugnisse oder Fragen der LiteralitätsrateLiteralität/Illiteralität als „äußere Bedingungen“ des Lesens in der Antike ins Zentrum gerückt haben, den Vorteil, dass das Phänomen Lesen in einer breiteren Perspektive in den Blick kommen kann. Die oben skizzierte Ausgangslage der Forschung hängt mit einem drängenden Desiderat zusammen, nämlich der grundlegenden Erschließung der überhaupt in Betracht kommenden Quellen. Denn die bisherigen Engführungen der Forschung haben dazu geführt, dass die zur Diskussion stehende Quellenbasis viel zu klein ist. Dies zeigt sich symptomatisch daran, dass das Vokabular des Lesens im Griechischen (und Lateinischen) bei weitem nicht vollständigUmfangvollständig erschlossen ist,17 geschweige denn sämtliche Quellen, die in der antiken Literatur auf LeseszenenLese-szene oder Lesen als Kulturtechnik im Allgemeinen verweisen, und die Einträge in den gängigen Lexika (aus nachvollziehbaren Gründen) defizitär sind.18

      Vorab ist allerdings schon darauf hinzuweisen: Angesichts der Fülle von Daten ist eine vollständigeUmfangvollständig Erschließung aller Stellen, an der Lesen in den Quellen thematisiert wird, im Rahmen dieser Studie nicht zu leisten. Die Erschließung der Lesetermini zeigt, dass es sich um ein historisches Thema handelt, bei dem einmal nicht über das Fehlen von Quellen geklagt werden muss – vielleicht ein Grund, warum die systematische Untersuchung über die Disziplinengrenzen hinweg bisher nicht realisiert worden ist. Zur Veranschaulichung: Allein für die am weitesten verbreiteten Lexeme, die das Phänomen Lesen im Griechischen beschreiben, ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und ἐντυγχάνωἐντυγχάνω (hier allerdings nur als eine Bedeutung des Verbes unter vielen), finden sich im TLG für die Zeit vom 8. Jh. v. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr. rund 8800 bzw. 6400 Einträge. Um der Materialfülle zu begegnen, musste daher ein pragmatischerPragmatik Weg gewählt werden. Bei der Analyse habe ich mich darauf beschränkt, so viele Stellen für die jeweiligen Verben zu begutachten, bis sich ein quantitativ relativ valides Bild ergeben hat. Das bedeutet, dass die Suche dann abgebrochen werden konnte, wenn die gefundenen Belegstellen lediglich schon Bekanntes wieder und wieder bestätigten. Für das Verb ἀναγιγνώσκω wurden dazu z.B. weit mehr als 3500 Belegstellen geprüft (die Belegstellen zu den Derivaten von ἀναγιγνώσκω konnten angesichts der deutlich geringeren Anzahl größtenteils vollständig durchgesehen werden). Auch bei der Interpretation der Quellen im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit musste eine exemplarische Auswahl der aussagekräftigsten Stellen getroffen werden. Als aussagekräftige Stellen gelten solche, die differenzierte Aussagen über LesepraktikenLese-praxis im Hinblick auf die unter 1.5 zu entwickelnden Kategorien ermöglichen.

      Methodisch ist bezüglich der Interpretation der Quellen Folgendes anzumerken: Es wird davon ausgegangen, dass literarische Texte, in denen LeseszenenLese-szene vorkommen, Weltwissen reflektieren und im Hinblick auf die antike LesekulturLese-kultur ausgewertet werden können, selbst wenn es fiktionale Gehalte sind, die erzählt werden. Diese Voraussetzung gilt auch für die weiteren Hauptkapitel (s. u.) und wird bei der Analyse der jeweiligen Texte nicht mehr im Einzelnen erwähnt.

      Trotz dieser Beschränkungen bietet der im Rahmen dieser Studie gewählte methodische Ansatz ein großes Potential nicht nur zur Erforschung der antiken LesekulturLese-kultur, der mit dem Anspruch auf Vollständigkeit allerdings nur im Rahmen eines großen Forschungsprojektes realisiert werden könnte. Diese Studie versteht sich daher als Ansatz, der gleichsam ein neues Forschungsfeld für die altertumswissenschaftlichen Fächer sowie für die neutestamentliche und patristischeKirche-ngeschichte Forschung aufzeigt, umreißt und zu etablieren versucht.

      Im Anschluss an die lexikologische und semantische Analyse wechselt der Fokus wieder zur materiellenMaterialität Dimension antiker LesekulturLese-kultur. Auf der Grundlage der Untersuchung der LeseterminiLese-terminus und der dadurch gewonnenen Erkenntnisse widmet sich die Studie dann unter Punkt 4 dem Zusammenhang zwischen dem griechischen SchriftsystemSchrift-system, das durch die scriptio continuaSchriftscriptio continua gekennzeichnet ist, und anderen „typographischen“ Merkmalen der griechischen Schriftkultur auf der einen Seite und dem Lesen auf der anderen Seite. Um das Bild bezüglich der antiken Lesekultur weiter zu vervollständigen, folgen darauf kurze Hinweise zum Thema PublikationPublikation/Veröffentlichung und Verfügbarkeit von Literatur und der Frage nach dem LesepublikumLese-publikum (5). Unter Punk 6 wird dann der Ertrag der Untersuchung des ersten Hauptteils festzuhalten und einen systematischen und zusammenfassenden Überblick über die Vielfalt antiker LesepraktikenLese-praxis und -kontexte zu geben sein.

      Die im ersten Hauptteil (2–6) gewonnenen Ergebnisse werden sodann in zwei Schritten für die Untersuchung von Texten aus dem antiken JudentumJudentum (7) und dem NT (8) fruchtbar gemacht, in denen Lesen thematisiert, oder LesepraktikenLese-praxis (implizit oder explizit) reflektiert werden. Ein besonderer Fokus wird auf solche Stellen gelegt, an denen selbstreferenziellselbstreferenziell die Rezeption thematisiert wird. Leitend bei der Analyse ist die Frage, inwiefern die Texte Aufschluss geben können über Lesepraktiken im Hintergrund der Texte bzw. auf die intendierte Rezeptionsweise des jeweils vorliegenden Textes. In exegetischExegese-methodischer Hinsicht bedeutet dies, dass der Hauptschwerpunkt der Analyse, unter vereinzelter Berücksichtigung diachroner und v. a. traditionsgeschichtlicher Fragen und textkritischerTextkritik Perspektiven, im Hinblick auf die biblischen Texte synchron orientiert ist, wobei die konkreten linguistischen (und narratologischenNarratologie) Zugänge zu den Texten durch das vorher entwickelte Modell (sozial- und medien-)geschichtlich kontextualisiert werden.

      Den Abschluss der Arbeit bildet ein Ausblick auf die LesekulturLese-kultur in der Alten KircheKircheAlte. Hier sind die Implikationen der Ergebnisse der Studie für die Frage nach dem Stellenwert des Lesens im frühen ChristentumChristentum und der Frage nach dem Lesen im Kontext der Abschreibepraxis neutestamentlicher Texte knapp zu skizzieren. Weiterführend werden die Hinweise auf VorleserVorleser bzw. für das „LektorenamtLektor“ als Evidenz für „gottesdienstlicheGottesdienst“ Lektüre kritisch zu diskutieren sein. Sodann ist ein Überblick über die Vielfalt früchristlicher LesepraktikenLese-praxis anhand exemplarisch ausgewählter und aussagekräftiger Quellen aus der Zeit der frühen Kirche zu geben. Zuletzt sind die Implikationen der Ergebnisse der Studie für die Frage nach der Entstehung des neutestamentlichen KanonsKanon anzudeuten.

      1.5 Beschreibungssprache und weitere terminologische Klärungen