Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


Скачать книгу

es ist unklar, inwiefern der etymologischeEtymologie und semantische Gehalt des Lexems in der Kommunikation über und Reflexion des Lesens in der Antike im Bewusstsein war oder – was m. E. nach der Durchsicht des Quellenbefundes am wahrscheinlichsten ist – schon vollkommen verblasst war und das Verb als terminus technicus verwendet wurde.8 Diesbezüglich sei an dieser Stelle exemplarisch auf die Ausführungen Diodors zu einer Hieroglyphen-Schrift9 verwiesen.

      „Damit wir nichts von den Altertümern auslassen, müssen wir von den äthiopischen BuchstabenBuch-stabe noch einmal sprechen, die die Ägypter Hieroglyphen nennen. Die Schriftzeichen gleichen Lebewesen, menschlichen Gliederung und Werkzeugen, und zwar besonders denen von Zimmerleuten. Ihre Bedeutung aber beruht nicht darin, daß etwa die Aneinanderreihung von Silben ein Wort ergibt, sondern dies geschieht aus dem Bilde selbst und dessen übertragenem Sinne, den man sich durch Übung ins GedächtnisGedächtnis eingeprägt hat. So zeichnet man Habichte, Krokodile, dazu Schlangen, von den menschlichen Körperteilen AugeAugen, Gesicht, Hand und ähnliches. […] Man geht vom Symbolgehalt aus, der jedem der Zeichen zugrunde liegt, und trainiert durch langjährige Übung und AuswendiglernenAuswendiglernen die Geistesfähigkeiten, dass man das Geschriebene leicht bzw. schnellLese-geschwindigkeit zu lesen vermag (καὶ μελέτῃ πολυχρονίῳ καὶ μνήμῃ γυμνάζοντες τὰς ψυχάςψυχή, ἑκτικῶς ἕκαστα τῶν γεγραμμένωνγράφω ἀναγινώσκουσι)“ (Diod.Diodorus Siculus 3,4; Üb. WIRTH; modifiziert JH).

      DiodorDiodorus Siculus verwendet ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω hier eindeutig als terminus technicus, mit dem er in kognitionspsychologischerKognitionswissenschaften Perspektive das geübte und schnelle LesenLese-geschwindigkeit der fremden Schriftzeichen aus der Außenperspektive bezeichnet. Die hier gemeinte Form des Lesens setzt die kognitivekognitiv Internalisierung der Bedeutungen der Schriftzeichen und langjähriger Übung der ψυχήψυχή voraus.10 Die Stelle ist insofern aufschlussreich, als es hier nicht um das Wiedererkennen von BuchstabenBuch-stabe und Wörtern geht, auch nicht um die einzelnen Zeichen, sondern um das Geschriebene (PartizipPartizip von γράφωγράφω) insgesamt, womit Diodor mutmaßlich auf einen zusammenhängenden Hieroglyphen-Text rekurriert. Diodor hat also einen kompetenten LeserLeser vor Augen, der Hieroglyphen-Texte flüssig lesen kann.

      Der Unterschied zu den HauptleseverbenHauptleseverb in den semitischen und romanischen Sprachen ist insofern bedeutsam, als es sich bei dem Verb eindeutig um einen Kognitionsbegriff handelt und damit anders als beim metaphorischenMetapher Hintergrund des lateinischen Hauptleseverbs legolego ein ganz anderer Schwerpunkt gelegt wird. Im Deutschen kann man m. E. am ehesten die durchaus geläufige Umschreibung des Lesevorgangs „einen Text o. ä zur Kenntnis nehmen“ äquivalent zu ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω verstehen.

      Zum konkreten Verwendung des Verbes im Sinne von „lesen“ lässt sich aus dem breiten Quellenbefund das Folgende sicher sagen: ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω bezeichnet sowohl a) das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt vor einer anderen Person oder b) vor einer Gruppe (häufig einer politischen Versammlung), wobei der AdressatAdressat/die Adressaten des Vorlesens meist im Dativ angegeben werden, aber auch häufig c) die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre.

      Ad a) vgl. z.B. Xen.Xenophon Kyr. 4,5,26; Aristoph.Aristophanes Eq. 1011; Plut.Plutarch Alex. 46; Dion 14; Dion Chrys. or. 18,21: καὶ εἰ ἀναγιγνώσκειν με δέοι σοῦ ἀκροωμένου …; 30,7f); Epikt.Epiktet diatr. 2,1,30; 3,23,6; Est 6,1 LXXEst 6,1 LXXAT/HB/LXX; äthHen 13,4; Herm. vis. 1,2,1–1,3,2Herm. vis. 1,2,1–1,3,2; Mak. apokr. 3,5,5; Ios.Josephus, Flavius bell. Iud. 1,25,2 (502); Athen.Athenaios deipn. 13,1 (555a); SB 14 12139,3,14f.

      Ad b) vgl. z.B. Thuk.Thukydides 7,10; Xen.Xenophon hell. 5,1,30; 7,1,37.39; Plat.Platon Tht. 143b; Plat. Parm.Parmenides127c/d; Isokr.Isokrates passim;11 Diod.Diodorus Siculus 14,3,6; 18,8,3f (Subjekt des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt ist hier ein κῆρυξ); Dion Chrys. or. 44,12; 45,15; Plut.Plutarch symp. 1,4,3 (mor. 621c/d); Pomp. 59; Ant. 78; CatoCato der Ältere, Marcus Porcius min. 51; conv. sept. sap. 8 (mor. 152f); Ios.Josephus, Flavius bell. Iud. 1,33,8 (667f); Polyain.Polyainos strat. 8,17; Athen.Athenaios deipn. 4,65 (168b); Charit.Chariton von Aphrodisias Cal. 4,6,5; App.Appian civ. 2,19,142; Cass. DioCassius Dio 54,25,5 (Augustus spricht im Senat aufgrund von Heiserkeit nicht selbst, sondern lässt einen Quästor sein ManuskriptHandschrift/Manuskript vorlesen); Chaniotis, Verträge, Nr. 32,1f.5; Nr. 50,12f; Nr. 59,30–35; IG II3 1 292,48; IG II3 1 306,10; IG II3 1 1273,14;