Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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er hat sie studiert. Eindeutig als MetonymieMetonymie für das individuelle Lesen verwendet auch KaiserKaiser/Princeps Iulian das Verb in seiner satirischen Schrift Misopogon aus der zweiten Hälfte des 4. Jh., um die große Anzahl der BücherBuch hervorzuheben, die er schon gelesen habe: … ὡς ἐμαυτὸν πείθω, βιβλία ἀνελίξας οὐδενὸς ἀριθμὸν ἐλάττω (Iul.Iulianus, Flavius Claudius (Kaiser) mis. 347a; vgl. auch Iul. or. 6,203b). Auch wenn es nicht ganz sicher ist, ob Basilius von Caesarea die alttestamentlichenAT/HB/LXX Geschichten in RollenRolle (scroll)- oder KodexformKodex rezipiert hat, könnte ep. 2,3 (… τὴν περὶ τοῦ Ἰωσὴφ ἱστορίαν συνεχῶς ἀνελίσσει …) darauf hindeuten, dass ἀνελίσσωἀνελίσσω in der Spätantike als gleichsam usuelle Metonymie auf die Lektüre von Texten in KodizesKodex übertragen wurde.3 Eher in den Hintergrund tritt die Kontiguitätsbeziehung zwischen Entrollen und Lesen an Stellen, an denen ἀνελίσσω gleichsam in raummetaphorischem Sinne das Interpretieren bzw. Auslegen meint – das Öffnen (im Deutschen würde man die Raummetapher „Heben“ verwenden) eines Schatzes (θησαυρός), der in einem Text verborgen wurde, wie es der erzählte Sokrates bei XenophonXenophon im Hinblick auf eine kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirekt Rezeptionssituation ausdrückt (vgl. Xen. mem. 1,6,14,4 vgl. ferner Plat.Platon Phil. 15e; Prokl.Proklos theol. plat. 1, p. 16; parm. p. 1080,22 u. ö.).

      Das etymologischEtymologie verwandte Lexem ἀνειλέωἀνειλέω (entrollen), das u. a. in der LXXAT/HB/LXX in Ez 2,10Ez 2,10 vorkommt, muss hier nicht ausführlich besprochen werden, da es, vergleichbar mit ἀνελίσσωἀνελίσσω in Bezug auf SchriftmedienLese-medium, das der Lektüre vorausgehende Entrollen derselben bezeichnet.5 Ohne PräfixPräfix findet sich das Verb in einem bei Diogenes Laertios überlieferten Epigramm: „Sei nicht eilig, das ephesische BuchBuch des Heraklitos zum Stab zu rollen (μὴ ταχὺς Ἡρακλείτου ἐπ’ ὀμφαλὸν εἴλεε βίβλον τοὐφεσίου). Denn der Weg ist schwierig zu gehen“ (Diog. Laert.Diogenes Laertios 9,1,16). Das Epigramm verknüpft hier die LesemetonymieMetonymie „bis zum Stab rollen“ mit der MetapherMetapher des Lesens als ReiseReise, die als Unterkategorie der konzeptuellen Metapher BEWEGUNG IST LESENBEWEGUNG analysiert werden kann (s. u. 3.7), und warnt damit vor einer oberflächlichenAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre von Heraklit. Und zwar – wie im Folgenden deutlich wird – weil der Weg dunkel (ὀρφνὴ καὶ σκότος ἐστὶν ἀλάμπετον), also der Inhalt schwer verständlich ist und daher die Führung durch einen Eingeweihten notwendig erscheint (… μύστης εἰσαγάγῃ), man beim Lesen also angeleitet werden sollte.

      Wegen der geringen Vergleichsbasis kann man über das bei Sextus Empiricus belegte, verwandte Lexem διατυλίσσωδιατυλίσσω (durchrollen) nicht viel mehr sagen, als dass er es in adversus mathematicos verwendet, um auszudrücken, dass Pyrrhon Homers Dichtung aus Interesse an poetischen Figuren und Charakteren durchgelesen hat (vgl. S. Emp.Sextus Empiricus adv. math. 1,281).

      Nur bei Clemens Alexandrinus, soweit ich den Befund richtig überblicke, ist das Verb κυλί(νδ)ωκυλί(νδ)ω (rollen) als LesemetonymieMetonymie gebraucht (vgl. Clem. Al.Clemens von Alexandria 1,14,4). Dies korrespondiert mit der (selten bezeugten) Bezeichnung einer BuchrolleRolle (scroll) als κύλινδροςκύλινδρος (vgl. z.B. Diog. Laert.Diogenes Laertios 10,26).

      Im Kontext von LesemedienLese-medium benennt das Verb ἀναπτύσσωἀναπτύσσω (auf- oder entfalten), das etwa auch als militärischer Fachterminus gebraucht wird6 oder das Aufschneiden von menschlichen oder tierischen Körpern oder Körperteilen bezeichnet7, den notwendigen Schritt, Schriftstücke (vermutlich v. a. gefaltete Papyrusblätter oder Holz- bzw WachstafelnTafel/Täfelchen, die z.B. auch für Briefe verwendet wurden8) vor der Lektüre zu öffnen9 oder einen CodexKodex aufzuschlagen.10 Es gibt keine sicheren Hinweise darauf, dass es im Hinblick auf die Rollenform gebraucht wurde.11 (Ohne Vorsilbe meint πτύσσω in jüdischenJudentum und christlichen Texten mit einem Lesemedium als Objekt das Zusammenfalten o. ä. des Schriftmediums.)12 Es finden sich auch Belegstellen, an denen das Verb nicht (nur) das Auffalten, sondern als MetonymieMetonymie auch das Lesen eines Textes selbst bezeichnet.

      In VitProphPseudo-Epiphanius von Salamis 2,11 bezeichnet das Verb zugleich Lesen und VerstehenVerstehen der TafelnTafel/Täfelchen (πλάξ), das nur Mose vergönnt ist. In Ios.Josephus, Flavius vita 223 werden Öffnen und Lesen eines BriefesBrief mit diesem Verb zusammengefasst, der Akt des schnellenLese-geschwindigkeit Verstehens (συνίημι) aber noch einmal davon abgehoben. Der Kontext (Ios. vita 219–223) zeigt eindeutig, dass Josephus den Brief im Rahmen des Symposions ohne stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung gelesen haben muss, weil die verbliebenen engsten Freunde es nicht mitbekommen sollten. Ps.-Long.Pseudo-Longinos 7,1 adressiertAdressat mit dem Verb die genaue Prüfung von Stellen in der Dichtung und Prosa, die vorher mit dem Adjektiv ἐπισκεπτέος (zu betrachten) spezifiziert wird und die den Schein und den Prunk der vermeintlichen Erhabenheit finden (εὑρίσκωεὑρίσκω) lässt. Vgl. außerdem die Formulierung „die BücherBuch der alten Weltweisen entfaltend hindurchgehen (… καὶ τὰ βιβλία τῶν πάλαι παρ’ αὐτοῖς φιλοσοφησάντων ἀναπτύξας ἐπέλθῃς …)“ bei Ioh. Chrys.Chrysostomos, Johannes ad populum Antioch. hom. 19,1 (PG 49, p. 189,49f).

      Daneben wird das Verb auch als lexikalisierte MetonymieMetonymie im Sinne von „erklären, explizieren, ausführen“, also analog zu „entfalten“ im Deutschen gebraucht.13

      Bei DiodorDiodorus Siculus findet sich eine Belegstelle, an welcher der Befehl, ein Schriftstück zu öffnen (ἀνοίγωἀνοίγω), zugleich „lesen“ bedeutet (vgl. Diod. 14,55,1). Auch PlutarchPlutarch verwendet ἀνοίγω als Lese-MetonymieMetonymie, wenn er schreibt: „der Statthalter […] zeigte, nachdem er die TafelTafel/Täfelchen geöffnet [d. h. auch gelesen] hatte, die darin geschriebeneSchriftGeschriebenes Frage (τὴν δέλτον ἀνοίξας ἐπεδείκνυεν ἐρώτημα τοιοῦτον γεγραμμένονγράφω)“ (Plut. de def. or. 45 [mor. 434e]; Üb. OSIANDER/SCHWAB, leicht mod. JH). Die Stelle impliziert durch die Konnotation mit der visuellenvisuell Wahrnehmung (s. dazu 3.8) eindeutig individuell-direkteLektüreindividuell-direkt, nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lektüre des auf der Tafel enthaltenen Textes.14 Bei Plutarch findet