Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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[mor. 522e]). Das Verb παραλύωπαραλύω, das sich wohl auf den Faden bezieht, mit dem das Briefchen zusammengeschnürt ist und das typischerweise gesiegelt wird,15 benennt hier metonymisch das Lesen des BriefesBrief.

      Im Lateinischen findet sich das Verb revolvorevolvo (zurückrollen), das spezifisch den haptischen Umgang mit dem Rollenmedium benennt und als LesemetonymieMetonymie verwendet werden kann.

      Revolvo steht etymologischEtymologie und semantisch den griechischen Verben ἀνελίσσωἀνελίσσω und ἀνειλέωἀνειλέω näher, die ebenfalls den Vorgang des Rollens im Blick haben, als dem Verb ἀναπτύσσωἀναπτύσσω (auffalten). In der Vulgata wird auch das Verb ἀναπτύσσω in Bezug auf das Öffnen von SchriftmedienLese-medium in Lk 4,17Lk 4,17 mit revolvorevolvo übersetzt, obwohl mit expandoexpando auch ein analoges Lexem zur Verfügung gestanden hätte. Vgl. z.B. 2Kön 19,142Kön 19,14; aber vor allem Ez 2,10Ez 2,10, wo eindeutig nicht das „Auslegen“, sondern das physische „Ausbreiten“/„Auseinanderrollen“ gemeint ist. Hier übersetzt die LXXAT/HB/LXX das hebräische Verb פרשׂ mit ἀνειλέω, die Vulgata mit expandoexpando. Diese Unterschiede rühren möglicherweise daher, dass HieronymusHieronymus hier iuxta Hebraeos übersetzt hat.16 Plinius verwendet revolvo ganz eindeutig metonymischMetonymie für die individuelle Lektüre von Büchern, wobei er bei der Wiedergabe einer Vision von C. Fannius die Vollständigkeit im Sinne von „ganz durchlesen“/„bis zum Ende durchlesen“ betont: mox imaginatus est venisse Neronem, in toro resedisse, prompsisse primum librum, quem de sceleribus eius ediderat, eumque ad extremum revolvisse, idem in secundo ac tertio fecisse, tunc abisse. (Plin. ep.Plinius der Jüngere 5,5,5) Die Metonymie ist insofern eindeutig, als Plinius librum … ad extremum revolvisse eindeutig als Lesen (… qui fuisse illi legendi) kennzeichnet. Eine sehr enge Parallele findet sich bei Seneca d. Ä., bei dem das vollständigeUmfangvollständig Durchlesen durch das physische Ende der BuchrolleRolle (scroll) gekennzeichnet ist. So findet sich in seinen Suasorien die Formulierung librum … usque ad umbiliciumumbilicus revolvere (ein BuchBuch bis zum Stab zurückrollen; Sen. Rhet.Seneca, Lucius Annaeus (d. Ä.) suas. 6,27).17 Möglicherweise spricht dieser Beleg in Kombination mit dem PräfixPräfix re- außerdem dafür, dass Buchrollen üblicherweise im ausgelesenen Zustand gelagert und erst bei erneuter Lektüre „vom Stab weg“ bis zum Anfang gerollt wurden, um dann wieder zum Ende zurückgerollt zu werden. Dies würde im Übrigen damit korrespondieren, dass TitelangabenTitel häufig als subscriptiosubscriptio in den Hss.Handschrift/Manuskript angebracht wurden.18

      In einer RedeRede von L. Valerius in der Römischen Geschichte von LiviusLivius, Titus steht das Verb metonymischMetonymie für das Zitieren aus Catos Werk OrigenesOrigenes: tuas adversus te Origines revolvam (Liv. 34,5,8). Vgl. ferner die metonymische Verwendung bei Quint.Quintilian inst. or. 11,2,41. Allerdings kann von dem Vorkommen des Verbes nicht auf die Form des Mediums geschlossen werden (KodexKodex oder RolleRolle (scroll)), auf dem ein Text geschriebenSchriftGeschriebenes ist. Denn schon mit dem Aufkommen des Kodex wird das Verb dazu verwendet, den Kodex „aufzuschlagen“, wie in Martials Epigrammen deutlich wird. Vgl. Mart.Martial 6,64; 11,1. Das Verb wurde vermutlich als feststehender Terminus auf das neue Medium übertragen, ein Phänomen, das bei Medienwechseln häufig zu finden ist.19 Auch in der patristischenKirche-ngeschichte Literatur wird das Verb verwendet, um das Öffnen bzw. das Lesen eines Kodex zu bezeichnen. Vgl. exemplarisch Hier.Hieronymus com. in Psal. 4,8, der eine Textvariante in den Hss.Handschrift/Manuskript beschreibt: „‚Und ihres Öles‘, was in den meisten Kodizes zu finden ist (id quod in plurimis codicibus invenitur), habe ich, als ich das alte Psalterium der Hexapla des Origenes aufschlug (cum vetustum origenis hexaplum psalterium revolverem), das von seiner eigenen Hand verbessert war, weder im Hebräischen noch in den übrigen EditionenEdition und auch nicht bei den Siebzig Übersetzern gefunden“ (Üb. RISSE).20

      Catull verwendet das Verb pervolvopervolvo (herumwälzen, -rollen) als LeseterminusLese-terminus und prophezeit, die Zmyrna des CinnaCinna, Gaius Helvius, die nach neun Jahren erschienen ist, werde sehr weit verbreitet werden, und man werde sie „durch Jahrhunderte herumwälzen (diu saecula pervolvent)“; die Annalen des Volusius hingegen würden „oft Makrelen als reichlich bemessenes Einpackpapier dienen“ (Cat. 95; Üb. HOLZBERG), womit Catull sicher nicht nur metaphorischMetapher die prophezeite Nicht-Rezeption eines anderen Werkes zum Ausdruck bringt. Möglicherweise meint Catull hier, dass die Zmyrna nicht nur eine lange Zeit von mehreren Generationen rezipiert, sondern auch iterativLektüreMehrfach-Frequenziterativ gelesen wird – ob individuell oder kollektiv kann nicht erschlossen werden. Deutlicher wird diese Bedeutungsnuance bei dem abgeleiteten verbum intensivum/iterativum pervoluto, das die mehrfache, intensive BeschäftigungAufmerksamkeitvertieft mit Texten ausdrücken kann,21 wobei der Kontext einer Belegstelle bei CiceroCicero, Marcus Tullius eindeutig individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre impliziert.22

      Als weitere Lexeme für die Beschreibung des haptischen Umgangs mit dem Medium RolleRolle (scroll) finden sich im Lateinischen noch die Verben evolvoevolvo (auseinanderrollen), vertoverto (drehen, wenden), explicioexplicio (entfalten) und contrectocontrecto (betasten, befühlen). Auch für diese Lexeme lässt sich nachweisen, dass sie als LesemetonymienMetonymie verwendet worden sind.

      Wenn CiceroCicero, Marcus Tullius an Atticus schreibt, „an diesem Punkt [scil. des BriefesBrief] angekommen, rolle ich die RolleRolle (scroll) mit deinen Briefen auseinander“ (Cic. Att. 9,10,4), und anschließend aus diesen Briefen zitiert, steht das Auseinanderrollen metonymischMetonymie für eine erneute Lektüre dieser Briefe.23 Cicero verwendet das Verb auch in der LeseszeneLese-szene, mit der er sein Werk Topica beginnen lässt: Gaius Trebatius, dem das Werk gewidmet ist, und er sind gemeinsam auf seinem tusculanischen Landgut und „in der BibliothekBibliothek rollte jeder von uns separat, für sein eigenes StudiumStudium, BücherBuch, die er wollte, auseinander (et in bibliotheca separatim uterque nostrum ad suum studium libellos, quos vellet, evolveret)“ (Cic. top. 1,1). Diese Szene ist insofern aufschlussreich, als hier die Möglichkeit einer kollektiv-direkteLektürekollektiv-direktn Studienlektüre belegt ist, bei der die beiden Anwesenden je für sich in unterschiedlichen Büchern, mutmaßlich nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend lesen. Sowohl die Betonung der separaten Lektüre (separatim) als auch die verwendete Lesemetonymie könnten darauf hindeuten, dass beide ohne VokalisierungStimmeinsatznicht-vokalisierend gelesen haben. Quintilian führt gegen solche an, die eine falsche Auffassung vom Wesen der RhetorikRhetorik hätten, dass sie sich mit dem Wenigen begnügt hätten, das „schon andere vor ihnen voll Unverstand aus Platons ‚Gorgias‘ herausgepickt hatten, ohne diesen selbst ganz oder andere Schriften Platons auseinandergerollt zu haben (neque hoc totum neque alia eius volumina evolvuntevolvo)“ (Quint.Quintilian inst.