Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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ist aber durchaus möglich – nicht zuletzt im Hinblick auf den LeseaktLese-akt von Schafan in 2Kön 22,82Kön 22,8–16, der auf Kenntnisnahme des Inhaltes hin ausgerichtet ist. Auch die Indizien an einer anderen Stelle weisen darauf hin, dass die LesepraxisLese-praxis im Alten IsraelIsrael bezüglich der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektürepraxis durchaus differenziert war. So fordert JHWH Habakuk in Hab 2,2Hab 2,2 dazu auf, er solle das, was er geschaut hat, „deutlich auf die TafelnTafel/Täfelchen schreibenSchreiben, damit der, wer es liest, rennt (‎לְמַעַן יָרוּץ קוֹרֵא בוֹ).“ Viele moderne Übersetzungen geben die Bildlichkeit der Aussage nicht präzise genug wieder15 oder greifen sogar in m. E. unzulässiger Weise interpretatorisch ein.16 Diese Übersetzungen lassen die in der antiken Welt mit dem Lesen verknüpfte Bewegungsmetaphorik unberücksichtigte, wie aus einschlägigen Kommentare deutlich wird. So formuliert L. Perlitt offenbar in Unkenntnis der Möglichkeit einer metaphorischenMetapher Bedeutung des Motivs des Rennens gegen die eigentlich naheliegende Übersetzung:

      „V. 2 b könnte übersetzt werden: „damit schnellLese-geschwindigkeit läuft […], der sie liest.“ Aber das wäre albern, denn weder vor noch nach V. 2 gibt es jemanden, der rennt, wohin auch immer. Subj. des Verbes ist sonst der Mensch, hier müsste man indirekt die AugenAugen als Subj. nehmen (wie Jes 59,7Jes 59,7; Spr 1,16Spr 1,16; 6,18Spr 6,18 die Füße). Aber weder bei ‚deutlich‘ noch bei ‚geläufig‘ kennen wir die konkrete Vorstellung, auf die angespielt sein könnte.“17

      Nicht zuletzt die altsprachlichen Übersetzungen verdeutlichen, dass hier die in der Antike geläufige Metaphorik des Durchrennens im Blick ist, die auf eine auf Schnelligkeit hin ausgerichtete Lektüre hindeutet.18 Diese schnelle Lektüre wäre wiederum durch den Einsatz der StimmeStimme bzw. das vollständigeUmfangvollständig Ausartikulieren in anderer Form (als durch unleserliche Schrift) behindert worden. Das heißt, vom Text wird vermutlich eine Lektürepraxis vorausgesetzt, die entweder durch subvokalisierendesStimmeinsatzsubvokalisierend Lesen oder durch gänzlichen Verzicht auf stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung die entsprechende SchnelligkeitLese-geschwindigkeit ermöglichte. Im Bild müssen nicht zwingend die AugenAugen gemeint sein, vielmehr steht der rennende Mensch hier totum pro parte für die am Leseprozess beteiligten Teile des Körpers. Es ist mit M. Malessa festzuhalten: „Der Schwerpunkt der Aussage liegt […] auf der Art und Weise des Vollzuges der Verbalhandlung von קרא und weniger auf dem Erreichen eines natürlichen Endpunktes der Handlung, was durch die durative Aktionsart der Konstruktion unterstrichen wird.“19 Hab 2,2Hab 2,2 hat also eine „typographische“ Gestaltung der TafelTafel/Täfelchen im Blick, die für die schnelle visuellevisuell Erfassbarkeit optimiert ist.20

      Vor diesem Hintergrund reflektiert vermutlich auch Jes 34,16Jes 34,16 individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektürepraxis. Dort findet sich die (in der LXXAT/HB/LXX fehlende und in der exegetischenExegese Fachliteratur häufig als sonderbar charakterisierte und in seiner Referenzialität und Ursprünglichkeit kontrovers diskutierte21) Aufforderung „Forscht im BuchBuch des Herrn und lest!“, die als Ausdruck schriftgelehrterSchrift-gelehrte Lektürepraxis verstanden werden kann.22

      Wenn קרא in spezieller Weise als LeseterminusLese-terminus gebraucht wird, übersetzt ihn die LXXAT/HB/LXX in den allermeisten Fällen mit dem griechischen HauptleseverbHauptleseverb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω,23 das wie oben ausführlich besprochen, auf einen anderen Bildspendebereich zurückzuführen ist. Dabei ist anzumerken, dass im Griechischen mit dem ebenfalls sehr häufig vorkommenden Leseterminus ἐντυγχάνωἐντυγχάνω (s. o. 3.4) ein anderes Lexem zur Verfügung gestanden hätte, das den semantischen Gehalt des Beziehungsaufbaus enthalten hätte, den קרא aufweist. Dies zeigt insgesamt, dass der ursprüngliche semantische Gehalt des Verbes קרא, wenn es als Leseterminus gebraucht wird, – ähnlich wie bei ἀναγιγνώσκω oder eben wie bei dem Lexem „lesen“ im Deutschen – verblasst ist.24

      Bei den meisten LeseszenenLese-szene im ATAT/HB/LXX, die mit קרא gekennzeichnet werden, handelt es sich allerdings um Vorleseszenen (durch den Kontext als solche markiert), wobei die AdressatenAdressat des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt häufig mit der Formulierung בְּאָזְנֵי („vor den OhrenOhr“, Ex 24,7Ex 24,7; 2Kön 23,22Kön 23,2; 2Chr 34,302Chr 34,30; Neh 13,1Neh 13,1; Jer 29,29Jer 29,29; 36,15Jer 36,15.21Jer 36,21–23), לִפְנֵי („vor dem Angesicht“, 2Kön 22,102Kön 22,10; 2Chr 34,182Chr 34,18.242Chr 34,24; Neh 8Neh 8,3Neh 8,3; Est 6,1Est 6,1) oder נֶגֶד („in Gegenwart von“, Dtn 31,11Dtn 31,11) markiert werden. Aus dem Vorkommen des Wortes „Ohr“ (אֹזֶן) in der Zusammensetzung בְּאָזְנֵי, die als konventionalisierte Präposition verwendet wird, ist nicht ableitbar, dass auch die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre mit stimmlicherStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung vollzogen wurde. Auch wäre es ein methodischer Fehlschluss, aus dem quantitativen Übergewicht von Vorleseszenen zu schließen, man habe im nachexilischen JudentumJudentum lediglich vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend und in Gruppen gelesen. Insgesamt muss man potentiell in Rechnung stellen, dass die geringe Anzahl an Szenen mit individuell-direkten LeseaktenLese-akt – sollten sie in bestimmten sozialen Kreisen ein alltäglicher Akt gewesen sein – dem Mangel an Relevanz für narrative Darstellungen geschuldet sein kann.

      Bei zahlreichen Vorleseszenen im ATAT/HB/LXX handelt es sich um singuläreFrequenzsingulär Lese- bzw. Kommunikationsakte auf der Ebene der erzählten Welt(!), die keine dauerhaft institutionalisierte und ritualisierteRitual/ritualisiert LesepraxisLese-praxis reflektieren,25 sondern in den meisten Fällen eine besondere narrative Relevanz für das jeweilige Erzählkonzept haben:26

      Briefe oder andere Dokumente werden etwa in einem singulärenFrequenzsingulär Kommunikationsakt vorgelesen (vgl. z.B. Jer 29,29Jer 29,29; ferner 1Esr 3,14 LXX1Esr 3,14 LXXAT/HB/LXX);27 ein singuläres Kommunikationsgeschehen stellen auch die Verlesungen des Bundesbuches/der ToraTora als Promulgationsakt dar;28 das mehrfache VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt der BuchrolleRolle (scroll) in Jer 36,6Jer 36,6.10Jer 36,10.15Jer 36,15.21–23Jer 36,21–23 gehört zu einer umfangreichen „konstruierten Erzählung […], die […] den KönigKönig Jojakim als Gegenbild zu König Joschija zeichnet und verschiedene Weisen des Umgangs mit GottesGott Wort aufzeigt.“29 Die Erzählung stellt also keinen historischen Bericht der Entstehung des Jeremia-BuchesBuch im 7. Jh. v. Chr. dar, wie in der Forschung von einigen angenommen wird,30 fungiert aber möglicherweise als Ätiologie redaktioneller Prozesse (vgl. Jer 36,32Jer 36,32).31 Das Vorlesen ist also Teil einer fiktionalen Erzählwelt der zweiten Hälfte des 7. Jh., die exilisch und nachexilisch gestaltet wird,32 wobei der Text keine Hinweise darauf gibt, dass eine zeitgenössische Vorlesepraxis prophetischer Texte in das 7. Jh. zurückprojiziert wird. Es handelt sich also um eine literarisch-fiktive Form des Vorlesens, die die narrative Funktion hat, die Kenntnis des GeschriebenenSchriftGeschriebenes bei allen Akteuren auf der Ebene der erzählten Welt sicherzustellen, um vor diesem Hintergrund als besonderes „Paradigma für die Verfehlung des Südreiches“33 dienen zu können. Aufschlussreich ist demgegenüber, dass die wieder erstellte und überarbeitete SchriftrolleRolle (scroll) (Jer 36,32Jer 36,32), welche von den Lesern als vorliegendes Buch Jeremia identifiziert werden soll, gerade nicht mehr vorgelesen wird. Freilich lässt dies auch keine sicheren Schlussfolgerungen zu, welchen Rezeptionsmodus insbesondere die Redaktoren der prophetischenProphet Literatur im Blick hatten.

      Eine VorleseszeneRezeptionkollektiv-indirekt (Neh 8Neh 8) muss an dieser Stelle ein wenig genauer betrachtet werden, da in der Forschung zuweilen angenommen wird, dass es sich um eine „Ätiologie des späteren synagogalen Gottesdienstes“34 handelte bzw. sich in ihr der „ideale Wortgottesdienst“GottesdienstWort-35, also eine dauerhaft institutionalisierte rituelle LesepraxisLese-praxis, widerspiegelte. Neh 8Neh 8 bietet eine ausführlich und detailreich beschriebene LeseszeneLese-szene in Jerusalem, wo sich das ganze VolkVolk nach der Rückkehr aus dem Exil im siebten Monat (Neh 7,72Neh 7,72) auf dem Platz vor dem Wassertor versammelt (vgl. auch 1Esr 3,11Esr 3,1) und Esra darum bittet, das BuchBuch der Weisung des Mose zu holen (Neh 8,1Neh 8,1). Bei der Darstellung der Leseszene werden folgende Elemente hervorgehoben:

      1) Die LeseszeneLese-szene erstreckt sich zeitlich vom frühen Morgen bis zum Mittag (Neh 8,3Neh 8,3).

      2)