Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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de orat. 1,33,149–34,159, wo das Auswendiglernen mediengestützt im „stillenLautstärkestill Kämmerlein“ passiert. S. dort v.a. weiterführend den Hinweis auf mnemotechnische Techniken in Cic. de orat. 1,34,157. Prägnant formuliert Quintilian: „Wer aber auswendiglernt durch das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt eines anderen, […] kommt langsamer voran, weil der Sinneseindruck der AugenAugen stärker haftet als derjenige der OhrenOhr (acrior est oculorum quam aurium sensus)“ (Quint.Quintilian inst. or. 11,2,34);35 bezeichnend ist auch sein Hinweis auf das Eintragen von Merkzeichen (notae) in dem auswendigzulernenden Text in inst. or. 11,2,28; in Quint. inst. or. 11,2,32 verweist er explizit darauf, dass man auf der Grundlage des selbstgeschriebenen Textes auswendiglernen sollte, denn dann stehe dem Sprecher der Text vor Augen (velut oculis intuetur intuetur non paginas modo, sed versus prope ipsos) und er spreche so, als läse er (cum dicit similis legenti). S. außerdem Quint. inst. or. 10,1,19 (s. o. 3.9); Lact.Lactantius inst. 3,25,9 (s. o. 4.2).36 Zur kognitivenkognitiv Herausforderung des Auswendiglernens vgl. Dion Chrys. or. 18,19.37

      Es überrascht in diesem Zusammenhang nicht, dass die Defizite bzw. die geringe BehaltensleistungAuswendiglernen beim reinen Hörverstehen in den Quellen reflektiert werden.38 Entsprechend wurde die Fähigkeit des als illiteratLiteralität/Illiteralität geltenden Mönchs Antonius,39 die Heilige SchriftHeilige Schrift(en) nur durch das Hören auswendig behalten zu haben (memoriter audiendoaudio tenuisse), als etwas Besonderes hervorgehoben.40 Außerdem wird in den Quellen die Notwendigkeit der mehrfachen individuellen Lektüre für ein aussagekräftiges ästhetischesästhetischer Genuss/Vergnügen Urteil thematisiert.41 Iterative Lektüre wird in den Quellen sodann auch mit dem Steigern starker emotionaler Regungen in Verbindung gebracht.42 Eine besondere Form individueller Lektüre ist mit dem Ziel der EvaluationEvaluation (s. auch Korrektur) bzw. KorrekturKorrektur (s. auch Evaluation) eines Textes verknüpft.43 Es finden sich in den Quellen z.B. Formen des prüfenden Lesens, die dazu dienen, den pseudepigraphenPseudepigraphie Charakter einer Schrift festzustellen44 oder das Konzept des gegenseitigen Lesens von Manuskripten mit Einfügung von handschriftlichen Kommentaren, Korrekturbemerkungen oder sogar redaktionellenRedaktion/redaktionell Überarbeitungen.45 Eine weitere Form des Zusammenhangs zwischen Lesen und SchreibenSchreiben in Bezug auf Lektüre zu Aneignungszwecken findet sich in der ebenfalls in der Antike weit verbreiteten Praxis LesefrüchteLese-frucht schriftlich festzuhalten also zu exzerpierenExzerpt.46 Die Exzerpte hatten entweder die Funktion der Gedächtnisunterstützung47 oder wurden direkt mit dem Ziel angefertigt, Texte bzw. ZitateZitat oder einzelne Gedanken für die eigene TextproduktionTextproduktion festzuhalten.48 Ferner ist auch bezeugt, dass beim Lesen direkt in den HandschriftenHandschrift/Manuskript gearbeitet wurde.49 Zudem finden sich Belege dafür, dass auch zu UnterhaltungszweckenUnterhaltung und zum Zeitvertreib50 gelesen wurde und dass auch in der Antike LeserLeser LeseerlebnisseLese-erlebnis haben konnten, welche die kognitionspsychologischeKognitionswissenschaften LeseforschungLese-forschung Immersion nennt.51 Diesbezüglich ist zuletzt auf eine bei Lukian beschriebene Szene hingewiesen, der das individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lesen in einem BuchBuch als Möglichkeit betrachtet, sich einer sozialen Situation der Exklusion, insb. in emotionaler Hinsicht, zu entziehen.52

Teil II Anwendung der erarbeiteten Grundlagen zur Analyse spezifischer Textcorpora

      7 Lesen im antiken Judentum – Exemplarische Fallstudien

      7.1 Hebräische Bibel, LXX und außerkanonische Schriften

      AT/HB/LXXJudentumDie folgenden Ausführungen geben einen Überblick und orientieren sich an der Leitfrage, ob bzw. inwiefern Reflexionen von LeseaktenLese-akt im ATAT/HB/LXX (Hebräische Bibel und LXX) und in den außerkanonischen Schriften einen Aussagewert für LesepraktikenLese-praxis im frühen ChristentumChristentum haben. Die Auswahl aus der LXX betrifft die Stellen, an denen explizite selbstreferenzielleselbstreferenziell Verweise auf Lektürepraktiken zu finden sind – insgesamt eine Ausnahme in diesem TextkorpusKorpus. Die Reflexion der Lesepraktiken alttestamentlicher Texte im frühen Christentum selbst wird hingegen unten zu thematisieren sein (8.2).

      7.1.1 קרא als hebräisches Hauptleseverb

      AlsHauptleseverb Hauptverb für „lesen“ im biblischen Hebräisch muss קרא gelten, das in dieser Bedeutung an mindestens 36 Stellen belegt ist.1 Können aus der Semantik des Verbes Rückschlüsse auf die LesepraxisLese-praxis im alten IsraelIsrael gezogen werden? Allein aus der Grundbedeutung „rufen“ bzw. präziser „durch den Laut der StimmeStimme die Aufmerksamkeit jemandes auf sich ziehen, um mit ihm in Kontakt zu kommen“,2 abzuleiten, im nachexilischen JudentumJudentum wäre nur oder mehrheitlich vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend gelesen worden, wäre methodisch verfehlt.3 Hossfeld und Lamberty-Zielinski gehen davon aus, dass es sich bei der Entwicklung des LeseterminusLese-terminus als Spezialbedeutung von קרא um eine zeitlich nachgeordnete Entwicklung handelt, da קרא „in dieser Bedeutung ‚lesen‘ erst von der exil. Zeit an (vor allem dtr) belegt ist.“4 Dabei kann zwar vermutet werden, dass sich die Verwendung sprachgeschichtlich aus der Grundbedeutung abgeleitet hat. Es gibt aber mehrere Indizien, die dafür sprechen, dass die Semantik der Verbwurzel in der späteren Verwendung als Spezialterminus für das Lesen verblasst ist – ähnlich wie bei vielen, oben besprochenen LesemetaphernMetapher und -metonymien im Griechischen und Lateinischen und insbesondere bei den HauptleseverbenHauptleseverb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und legolego.

      So kann das Verb die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre von Schriftstücken bezeichnen.5 Mehrfach wird beschrieben, wie der KönigKönig einen BriefBrief liest, der ihm direkt ausgehändigt wird (2Kön 5,72Kön 5,7; 19,142Kön 19,14 [= Jes 37,14Jes 37,14]). In der Darstellung von Dtn 17,18 fDtn 17,18 f wird der König als nachexilischer SchriftgelehrterSchrift-gelehrte stilisiert,6 der eine AbschriftAbschrift der Weisung „bei sich haben soll und darin lesen soll sein Leben lang (‎וְהָיְתָה עִמּוֹ וְקָרָא בוֹ כָּל־יְמֵי חַיָּיו‏‎), damit er lerntLernen, JHWH Elohim zu fürchten, und damit er alle Worte dieser Weisung und diese Satzungen hält und danach handelt.“ Dass er diese Abschrift der Weisung selbständig anfertigen soll (Dtn 17,18Dtn 17,18),7 betont die Individualität des (freilich stilisierten) täglichen Leseaktes, den sich die LeserLeser hier vorzustellen haben. Dtn 17,18Dtn 17,18 wird von PhilonPhilon von Alexandria aufgegriffen, weshalb unten noch einmal darauf zurückzukommen sein wird (s. u. 7.2.2).8

      Aus 2Kön 22,8–162Kön 22,8–16 abzuleiten, Dtn 17,18 fDtn 17,18 f meine, dass dem KönigKönig der Text täglich vorgelesen werden solle,9 steht in Spannung zur eigenhändigen AbschriftAbschrift des zu lesenden Textes. Auch die Behauptung Ottos, hier sei ein Vorleseakt mit stimmlicherStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung vorauszusetzen,10 bleibt ohne Begründung. BDB 895,4b zählt die Stelle zur Kategorie „read, to oneself“. In 2Kön 22,8 wird erzählt, dass der Hohepriester Hilkija dem Schreiber Schafan das „BuchBuch der Weisung“ (‎סֵפֶר הַתּוֹרָה)11 aushändigt, das dieser dann für sich liest (וַיִּקְרָאֵהוּ/LXXAT/HB/LXX: καὶ ἀνέγνωἀναγιγνώσκω αὐτό) und später dem König Joschija vorliest (2Kön 22,10 f).12 Es ist interessant, dass der Chronist die Formulierung „er las es“ (2Kön 22,10) zu „er las darin“ (2Chr 34,182Chr 34,18) verändert, also das Objektsuffix mit dem Präpositionalausdruck vertauscht und damit „den Umfang des Vorgelesenen [hin zur selektivenUmfangselektiv Lektüre verändert]: