Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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der Lektüre zu achten. Freilich lassen nicht alle LeseszenenLese-szene in der antiken Literatur eine dezidierte Untersuchung im Hinblick auf all diese Kategorien zu.15 An zahlreichen der untersuchten Leseszenen, in denen Lesen metaphorischMetapher oder metonymischMetonymie konzeptualisiert ist, hat sich aber deutlich gezeigt, dass es sich bei den Kategorien nicht um moderne Konzepte handelt, die dem Quellenbefund „übergestülpt“ werden. Vielmehr lassen sich mit den Kategorien Aspekte der Vielfalt antiker LesepraxisLese-praxis beschreiben, deren Wahrnehmung sich z. T. in der Leseterminologie kondensiert hat, z. T. explizit beschrieben wird, z.T. impliziert ist. Dies lässt sich noch einmal daran verdeutlichen, dass sich viele Lexeme bzw. Konzepte auf die Vollständigkeit eines Leseaktes beziehen (v. a. διαναγιγνώσκωδιαναγιγνώσκω, ἐξαναγιγνώσκωἐξαναγιγνώσκω, perlegoperlego, ad extremum/ad umblicium revolvorevolvo). Dies korrespondiert umgekehrt mit Klagen bzw. der Befürchtung von AutorenAutor/Verfasser, dass auch in der Antike BücherBuch nicht vollständig gelesen wurden oder Passagen übersprungen wurden.

      Satirisch thematisiert bei Mart.Martial 14,2: „Beenden kannst du dies Büchlein an jeder beliebigen Stelle: Das ganze Werk ist nur in jeweils zwei Versen verfaßt. Fragst du, weshalb ich die Überschriften dazuschrieb, dann will ich’s erklären: Damit du, wenn’s dir so lieber ist, nur die Überschriften zu lesen brauchst“ (Üb. BARIÉ/SCHINDLER); Mart. 2,6,1–4: „Ach geh’ doch, dränge du mich, meine BüchleinBuch herauszugeben! Kaum hast du zwei Seiten gelesen (lectis vix tibi paginis duabus), da schielst du schon, Severus, auf das letzte Blatt und verziehst den Mund zu anhaltendem Gähnen“ (Üb. DIES.); Ov.Ovidius, P. Naso met. 9,575: jemand liest einen BriefBrief nur zur Hälfte (lecta sibi parte); Plin. ep.Plinius der Jüngere 7,9,9 verweist auf eine LesestrategieLese-strategie, dass man etwas nur so weit zu lesen brauchte, bis man das Argument verstandenVerstehen habe; Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos comp. 4 klagt über den schlechten Stil von Büchern, die man nicht von vorne bis hinten lesen könne. Ähnlich Mart. 4,49, der den Schwulst von Flaccus aufs Korn nimmt und schreibt: „Meine Büchlein sind frei von jeglichem Schwulst, meine Muse plustert sich nicht in tragischer Robe auf. ‚Aber das andere loben, bewundern und beten alle an!‘ Zugegeben, sie loben’s, doch meine Gedichte lesen sie“ (Üb. BARIÉ/SCHINDLER); GelliusGellius, Aulus bittet seine LeserLeser darum, „das, was ihnen beim Lesen als längst nicht mehr fremd vorkommt, nicht gleich als Gewöhnliches und allgemein Bekanntes unbeachtet zu übergehen“ (Gell. praef. 14; Üb. WEISS). Auch wenn Galen darauf hinweist, dass ein Freund sein „ganzes BuchBuch“ (ὅλον τὸ βιβλίονβιβλίον) gelesen habe, geht er davon aus, dass seine Bücher nicht unbedingt vollständigUmfangvollständig gelesen worden sind (Gal.Galenos san. tuend. ed. KÜHN 6, p. 450).16

      In diesem Zusammenhang sind außerdem die Hinweise zur expliziten Konzeption eines BuchesBuch für diskontinuierlichKontinuitätdiskontinuierlich-selektiveUmfangselektiv Zugriffe zu nennen.17 Insgesamt zeigt dies wie auch die Vielfalt der in den LesemetaphernMetapher und LesemetonymienMetonymie zum Ausdruck kommenden Zugriffsweisen, dass das RollenformatRolle (scroll) keine sequentielleKontinuitätsequentiell (und vollständigeUmfangvollständig) Lektüre determinierte. Diese Belege zeigen eindrücklich, dass in der Antike so etwas wie „Schreibtischarbeit“, also das vergleichende und parallele LesenLesenvergleichend mehrerer Schriften, nur vermutlich ohne Schreibtisch, möglich war und praktiziert wurde. Darauf wird unter 9.3 zurückzukommen sein.

      Im Hinblick auf die LesesituationLese-situation individueller Lektüre sind zusätzlich folgende Aspekte festzuhalten: Sowohl ununterbrochene18 als auch für Denk-, ExzerptExzerpt- und SchreibpausenLese-pausen/-unterbrechung,19 aber auch für Gespräche20 unterbrochene individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre lässt sich in den Quellen nachweisen. Eine Kuriosität im Hinblick auf Schreibpausen bildet ein „LesezeichenLese-zeichen“ aus PergamentPergament (5. Jh.), auf dem in drei Zeilen geschriebenSchriftGeschriebenes steht:

      Lies und notiere die Hauptpunkte/markiere die Kapitel (ἀγάγνωθιἀναγιγνώσκω αὐτό, σημείωσον τὰ κεφάλαια; P.Köln 2 114; Üb. KOENEN).21

      Angesichts der dreieckigen Form22 wäre es tatsächlich denkbar, dass es dafür vorgesehen war, in einen KodexKodex zwischen die Seiten gesteckt zu werden. Die unterbrochene Lektüre ist ein vielfach bezeugtes Motiv in der antiken LeseikonographieLese-ikonographie.23 In dieser Hinsicht besonders instruktiv sind außerdem solche Stellen, an denen der LeserLeser zur ergänzenden Imagination, also zur kognitivenkognitiv Weiterverarbeitung, aufgerufen wird, der AutorAutor/Verfasser also gleichsam zu einer LesepauseLese-pausen/-unterbrechung auffordert. Diese Stellen sind auch in solcher Hinsicht aufschlussreich, als sie ein Nachweis sind für die Reflexion der aktiven Rolle antiker Leserinnen und Leser bei der SinnkonstitutionSinnkonstitution im Leseprozess. Exemplarisch sei hier auf folgenden Satz bei KallimachosKallimachos verwiesen, in dem er nicht nur auf die Möglichkeit zur Unterbrechung hinweist,24 sondern auch die Möglichkeit des Abbruchs der Lektüre formuliert: „[The reader] can imagine [this] for himself, and thus cut down the length of the song (αὐτὸς ἐπιφράσσαιτο, τάμοι δ’ ἄπο μῆκος ἀοιδῇ·). But all that he answered to the questions, I will relate“ (fr. 57,1 f = SH 264,1 f; Üb. BING).25 Ein Bewusstsein für die aktive Beteiligung des Lesers bei der Sinnkonstitution im Leseprozess findet sich in zahlreichen Quellen, z. T. wird sie auch sehr explizit thematisiert,26 wodurch die Anwendbarkeit rezeptionsästhetischerRezeptionsästhetik Theorien auf antike Texte auch historisch legitimierbar erscheint.

      Als bevorzugte Haltungen beim Lesen ist sowohl die sitzende,27 die liegendeHaltungliegen28 (v. a. das Motiv der Abendlektüre vor dem Schlafen)29 als auch die stehende30 Position in den Quellen zu finden. Gelesen wurde zu verschiedenen Tageszeiten, wobei für BibliothekenBibliothek v. a. der Morgen als Lesezeit belegt ist,31 die Nachtstudien (lucubratiolucubratio) finden sich als Topos der gelehrten Existenz, die Quellen lassen keinerlei generalisierbare Aussagen zu. Die Orte, an denen in der Antike gelesen wurde, sind ebenfalls vielfältig. Neben der Bibliothek (s. o. passim), dem privatenÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat (s. o. passim) und auch dem öffentlichenÖffentlichkeitöffentlich32 Raum ist das Motiv des Lesens in der NaturNatur33 und vor allem das Motiv des Lesens auf der ReiseReise (z.B. auf dem Schiff oder auf dem WagenWagen)34 in den Quellen zu finden.

      In Bezug auf Ziele und Funktionen individueller Lektüre ist – über das oben zu funktionalen Zugriffen Gesagte hinausgehend – besonders auf folgende Aspekte hinzuweisen. Lesen zu Studien- und Lernzwecken ist sehr häufig in den Quellen zu finden und kommt insbesondere in der TerminologieLese-terminologie zum Ausdruck, die Lesen als Suchen konzeptualisiert (s. o. 3.6). Individuell-direkte Lektüre, aber noch vielmehr SchreibenSchreiben/Abschreiben von Texten, wurde in der Antike dem auditivenauditiv Kanal bezüglich des AuswendiglernensAuswendiglernen, z.B. für den Vortrag von RedenRede, aber auch allgemein für die rhetorische Bildung, vorgezogen.

      Die Tätigkeit eines RhapsodenRhapsode im klassischen Athen war mit dem Besitz großer Mengen an SchriftmedienLese-medium verbunden (vgl. Xen.Xenophon mem. 10). Rhapsoden waren also für den Vortrag von epischen Texten auf das schriftmediengebundene AuswendiglernenAuswendiglernen angewiesen. Zum Zusammenhängen von Lesen und Auswendiglernen vgl. exempl. Plut.Plutarch de glor. Ath.