Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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Intensität (ἐπὶ πλεῖον) der Lektüre (ἀνάγνωσις) der Weisung und der ProphetenProphet und der übrigen väterlichen BücherBuch 11 und erwarb sich durch diese eine reiche Fähigkeit.

      Die Formulierung „sich der Lektüre widmen“ (ἑαυτὸν δίδημι ἀνάγνωσιν) impliziert – gedeckt durch den unter 3.1.4 beschriebenen Befund –, dass der Großvater die Schriften IsraelsIsrael in Form von individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Studienlektüre intensiv24 rezipiert hat. SirProl 11SirProl 11 benennt zunächst als Ergebnis dieser Form von Lektüre, dass sich der Großvater eine reiche Fähigkeit (ἕξις) angeeignet habe,25 die aus der Perspektive von SirProl 4 fSirProl 4 f darin besteht, eben nicht nur Wissen zu haben, sondern darüber hinaus auch in produktiver Hinsicht nützlich sein zu können. So hat der Großvater selbst ein Bildungs- und Weisheitsbuch (vgl. die Lexeme παιδεία und σοφία in SirProl 12SirProl 12) geschriebenSchriftGeschriebenes, das sich an die „Freunde des LernensLernen“ (SirProl 13SirProl 13) richtet.

      In SirProl 15–18SirProl 15–18 spricht der Prologautor schließlich die adressiertenAdressat LeserLeser seiner Übersetzung in der 2. Person direkt an. Sie sollen ihre Lektüre mit Wohlwollen und Aufmerksamkeit betreiben (μετ᾽ εὐνοίας καὶ προσοχῆς τὴν ἀνάγνωσιν ποιεῖσθαι; SirProl 16 fSirProl 16 f); und zwar v. a. im Hinblick auf textliche Auffälligkeiten, die – und hier rechtfertigt sich der Prologautor vor seinen Lesern – auf das Problem der Äquivalenz beim Übersetzen vom Hebräischen ins Griechische zurückzuführen sind (vgl. SirProl 19–26SirProl 19–26).26 Sowohl die damit vorausgesetzten philologischen Fähigkeiten der intendierten Adressaten27 als auch die Wendung „die Lektüre betreiben“ implizieren entsprechend der Analyseergebnisse unter 3.1.4, dass der Prologautor eine intensiveAufmerksamkeitvertieft, individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Studienlektüre für seine Übersetzung vorgesehen hat. Ein zusätzliches Indiz dafür bietet zudem das Ende des Prologs, wo er darauf hinweist, dass er die Übersetzung des BuchesBuch auch des Nachts erstellt hat (SirProl 30–33SirProl 30–33), woraus zu schließen ist, dass er sich am in den Quellen vielfach belegten Ideal des nächtlich lesenden und schreibenden Gelehrten orientiert.28

      SirProl 33–35SirProl 33–35 gibt außerdem Aufschluss sowohl über die Zielsetzung der Lektüre als auch über das intendierte LesepublikumLese-publikum. Der Prologautor nutzt mit dem Verb ἐκδίδωμι (SirProl 33SirProl 33) die gängige Bezeichnung dafür, dass ein BuchBuch herausgegeben wird (s. zur PublikationPublikation/Veröffentlichung in der griechisch-römischen Welt o. 5), wobei er explizit betont, dass es sich um eine (veröffentlichungsfähige) Endfassung handelt (πρὸς τὸ ἐπὶ πέρας ἀγαγόντα τὸ βιβλίον ἐκδόσθαι). Er hat also seine Übersetzung – möglicherweise über die Kanäle des antiken BuchmarktesBuch-handel verbreitet – für ein anonymes Lesepublikum verfügbar gemacht; und zwar für LeserLeser, die „in der Fremde das LernenLernen lieben wollen (καὶ τοῖς ἐν τῇ παροικίᾳ βουλομένοις φιλομαθεῖν), dass sie sich ihren Ethos so zurichten lassen, toragemäß zu leben“ (SirProl 34–36SirProl 34–36). Das Buch richtet sich also an Juden, die in der DiasporaDiaspora leben,29 und aus dieser Perspektive kann man schlussfolgern, dass diese möglicherweise auch schon in SirProl 5SirProl 5 mit der Formulierung οἱ ἐκτός im Blick sind.30 Der Übersetzer weiß, dass die Schriften IsraelsIsrael in Ägypten in griechischer Übersetzung verfügbar sind und rezipiert werden.31 Er antizipiert ein gebildetes LesepublikumLese-publikum (vgl. SirProl 29SirProl 29), in dem er entsprechend seiner RedeRede von den „Freunden des Lernens“ als Multiplikator wirken kann; also mit seiner Übersetzung einen Beitrag zur aktiven Vergegenwärtigungs- und Vermittlungsarbeit toragemäßer und weisheitlicher Bildung im Sinne der reichen Schriftentradition Israels in der Diaspora leisten kann.32

      Dabei deutet weder im PrologProlog noch an anderer Stelle des Sir etwas darauf hin, dass diese Vermittlungsarbeit darin besteht, anderen die Schriften IsraelsIsrael oder das vorliegende BuchBuch kollektiv vorzulesen. Die Lektürearbeit der „Freunde des LernensLernen“ hat eindeutig nicht zum Ziel, sich auf das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt vor anderen vorzubereiten, sondern dient der eigenen, weisheitlichen Bildung, die wiederum produktiv genutzt werden sollte. Die aktive Vermittlungsarbeit besteht entweder in Form mündlicher LehreLehre (vgl. λέγω) oder der schriftlichen Verarbeitung in Form literarischer Beiträge (vgl. γράφω in SirProl 6SirProl 6), die in erster Linie in Form intensiv-direkter StudienlektüreAufmerksamkeitvertieft rezipiert wurden.

      Das Buch JesusSir Sirach setzt also ein weisheitliches LektürekonzeptLektüre-konzept voraus, das zuletzt in KontinuitätKontinuität zu Jos 1,8Jos 1,8 und Ps 1,2Ps 1,2 steht. Dieses hier skizzierte weisheitliche Lesekonzept ist insofern von großer Relevanz für diese Studie, als einige VerfasserAutor/Verfasser neutestamentlicher Texte mutmaßlich zu den empirischen RezipientenRezipient des (griechischen) Buches Jesus Sirach gehörten und sich damit im Sinne des Prologautors implizit als „Freunde des LernensLernen“ und Multiplikatoren identifiziert haben.33 Zudem mahnen die Ergebnisse zur Vorsicht, ein Lektürekonzept im Hintergrund der neutestamentlichen Schriften zu postulieren, bei dem aus einem vermeintlich geringen Literalitätsgrad in antiken Gesellschaften, insbesondere von unteren Schichten, geschlussfolgert wird, dass den vorausgesetzten AdressatenAdressat, die diesen Schichten zugeordnet werden, die Texte „laut“Lautstärkelaut vorgelesen werden mussten. Zumindest aus der Perspektive des Buches Jesus Sirach kämen solche vorausgesetzten Adressaten der neutestamentlichen Texte gar nicht als Rezipienten in Frage. Denn aus der Perspektive des Buches Jesus SirachSir werden zumindest HandwerkerHandwerker explizit als Rezipienten für dieses Buch ausgeschlossen, da dieser Bevölkerungsgruppe die Zeit für eine Auseinandersetzung mit den Texten fehlte (s. o.). Es fällt mir kein guter Grund ein, warum man dies nicht auch analog für die von vielen Forschern postulierten Adressaten der neutestamentlichen Texte annehmen muss, die ebenfalls in den unteren Schichten vermutet werden. Diese fallen als intendierte Rezipienten der neutestamentlichen Schriften aus. Analoges findet sich im Übrigen bei Laktanz, der bezüglich eines ähnlich elaborierten Lektürekonzepts eines philosophischPhilosophie Gelehrten formuliert, dass Frauen, SklavenSklave, ArmeArmut, ArbeiterArbeiter und Menschen vom Lande keine Zeit für das Lernen durch Lektüre hätten, weil Frauen Dinge in Bezug auf den Haushalt lernen müssten, Sklaven durch ihren Dienst zeitlich okkupiert seien und die letzten Drei ihren täglichen Bedarf durch Arbeit decken müssten (vgl. Lact.Lactantius inst. 3,25,12).34 An dieser Stelle ist jedoch zu betonen, dass Frauen in der Antike sehr wohl gelesen haben.35

      In diesem Kontext hebt Laktanz, wie oben schon ausgeführt (S. 205), auch die perzeptuellen Vorzüge der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre gegenüber dem Hören bzw. Hersagen aus dem GedächtnisGedächtnis hervor. Dies ist zwar nicht ohne Weiteres auf den Übersetzer des Sir zu übertragen – es bleibt völlig offen, ob man sich das im Hintergrund des Sirachbuches stehende Lesekonzept vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend, subvokalisierend oder nicht vokalisierend vorstellen muss. Immerhin ist Letzteres aber vor dem Hintergrund der deutlichen Analogien durchaus denk- und vorstellbar.

      7.1.5 Antizipation unterschiedlicher Rezeptionsgewohnheiten im 2Makk

      Das zweite Makkabäerbuch, das den neutestamentlichen Texten nicht nur zeitlich nahe steht,1 sondern auch die EvangelienliteraturEvangelium beeinflusst hat2 und „einiges bei der Aufhellung des historischen, vorab des mentalitätsgeschichtlichen Hintergrundes des Neuen Testaments“3 beitragen kann, enthält zwei selbstreferenzielleselbstreferenziell Passagen (2Makk 2,19–322Makk 2,19–32; 15,37–392Makk 15,37–39), in denen sich der sog. „Epitomator“ zu Wort meldet und metadiegetisch über sein vorliegendes Werk reflektiert. Dieses Werk stellt gemäß seiner eigenen Aussage eine Zusammenfassung von fünf, sonst nicht bekannten BücherBuch des Kyrenäers Jason (2Makk 2,232Makk 2,23) dar. Im Folgenden