Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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anhand von Sir 39,1–3 LXXSir 39,1–3 LXXAT/HB/LXX (im Hebräischen leider nicht überliefert) noch weiter konkretisieren. Und zwar wird in diesen Versen, wie vorher deutlich geworden ist, die zeitintensive Tätigkeit des Weisheitserwerbs eines SchriftgelehrtenSchrift-gelehrte (סֹפֵר/γραμματεύςγραμματεύς; Sir 38,24Sir 38,24) im Gegenüber zu handwerklichen Berufen erläutert, die keine Zeit für den Weisheitserwerb auf der Grundlage der Auseinandersetzung mit Schriften lassen (vgl. Sir 38,24–43Sir 38,24–43): „Und derjenige, der wenig Arbeit hat, wird weise“ (Sir 38,24bSir 38,24). Dabei ist aufschlussreich, dass zuletzt auch die HandwerkerHandwerker durch ihre geübte und intensive Tätigkeit mit den Händen in einer anderen Form, nämlich „in ihrem Werk weise werden (ἐν τῷ ἔργῳ αὐτοῦ σοφίζεται; Sir 38,31Sir 38,31)“, und „ihr Gebet besteht im Tun ihrer Kunst“ (Sir 38,34 LXXSir 38,34 LXX).15 Dadurch entsteht der Eindruck, als wolle der Text eine gewisse Analogie zwischen der Tätigkeit in handwerklichen Berufen und der Tätigkeit des Schriftgelehrten herstellen, obwohl Letztere von den vorherigen Tätigkeitsbeschreibungen der Handwerker sprachlich abgegrenzt wird (vgl. v. a. πλήν in Sir 39,1 LXXSir 39,1 LXX):

39,1 a Wer jedoch sein Leben hingibt (τοῦ ἐπιδιδόντος τὴν ψυχὴνψυχή αὐτοῦ)
b und sich mit seinem Verstand dem Gesetz des Höchsten widmet (διανοουμένου ἐν νόμῳ ὑψίστου),
c der wird die Weisheit aller Altehrwürdigen erforschen (σοφίαν πάντων ἀρχαίων ἐκζητήσει),
d und in Prophezeiungen beschäftigt sein (ἐν προφητείαις ἀσχοληθήσεται).
39,2 aSir 39,2 Er wird die Erzählungen namenhafter Menschen bewahren (διήγησιν ἀνδρῶν ὀνομαστῶν συντηρήσει)
b und er wird zusammen hineingehen in die Wendungen der Parabeln.
39,3 aSir 39,3 Er wird das Verborgene der Sprüche erforschen (ἀπόκρυφα παροιμιῶν ἐκζητήσει)
b und er wird sich umwenden in den Rätseln der Parabeln (ἐν αἰνίγμασι παραβολῶν ἀναστραφήσεται).

      Sir 39,1a/bSir 39,1 charakterisiert die Tätigkeit eines SchriftgelehrtenSchrift-gelehrte als lebensfüllende Aufgabe. So wie die HandwerkerHandwerker ihre Arbeitsgegenstände mit den Händen bearbeiten, widmet sich der SchriftgelehrteSchrift-gelehrte mit seinem Verstand der ToraTora, was intensive, ausgiebige – wörtlich: rastlose – Studien- und Forschungslektüre erforderlich macht, wie die Verben ἐκζητέωἐκζητέω und ἀσχολέω in Sir 39,1c/d deutlich machen. Möglicherweise verweist das Syntagma „in Prophezeiungen“ (ἐν προφητείαις) in räumlicher Hinsicht auf das Vertieft-Sein in die Schriftrollen der ProphetenbücherProphet.16 „Die Altehrwürdigen“ (οἱ ἀρχαῖοι) stehen metonymischMetonymie für ein hier nicht näher spezifiziertes Corpus von Texten, das von den Schriftgelehrten studiert und erforscht wird.

      Zumindest aus der Perspektive des Prologs in der gegen Ende des 2. Jh. v. Chr. veröffentlichtenPublikation/Veröffentlichung17 griechischen Übersetzung wird deutlich, dass der Großvater des Übersetzers und postulierte AutorAutor/Verfasser18 des hebräischen Sirachbuches sich der intensivenAufmerksamkeitvertieft Lektüre der ToraTora, der ProphetenProphet (Sir 49,10Sir 49,10 zeigt schon im hebräischen Text das Bewusstsein für die Einheitlichkeit des Dodekapropheton) und der übrigen BücherBuch der Väter hingegeben hat (vgl. SirProl 1 fSirProl 1 f.8–10SirProl 8–10). Auch wenn diese Stelle im Hinblick auf die Frage der Entwicklung des KanonsKanon kontrovers diskutiert wird und es offenbleibt, welche exakten Schriften der Übersetzer insbesondere zu den letzten beiden Kategorien zählt,19 zeigt sich hier, dass die Schriften IsraelsIsrael kategorial strukturiert wurden und diese Kategorien für die LeserLeser des griechischen Sirachbuches transparent gewesen sein müssen. Auf den PrologProlog wird in Kürze zurückzukommen sein. Während Sir 39,2aSir 39,2 darauf hindeutet, dass die SchriftgelehrtenSchrift-gelehrte Erzählungen auswendiggelerntAuswendiglernen haben (die Formulierung impliziert keine wortgetreue Speicherung des Textes!), scheint Sir 39,2b mit einer Bewegungsmetapher (ἐν στροφαῖς παραβολῶν συνεισελεύσεται) auf die Lehrtätigkeit des Schriftgelehrten zu rekurrieren (vgl. neben dem Prolog auch Sir 39,8Sir 39,8). Darauf deutet zumindest das PräfixPräfix συν- hin: Der SchriftgelehrteSchrift-gelehrte geht zusammen mit jemandem in die Wendungen der Parabeln. Sir 39,3Sir 39,3 beschreibt wiederum das Ziel der Lektüre des Schriftgelehrten, nämlich: das in den Texten Verborgene und deren Rätsel zu entschlüsseln. Die hier beschriebene LektürehaltungHaltung des Schriftgelehrten und Weisheitslehrers, der sich mit den überlieferten Schriften Israels beschäftigt, kann in Anknüpfung an Sir 20,28Sir 20,28 auf die Leser des Buches JesusSir Sirach übertragen werden.

      Zuletzt ist nun auf den schon erwähnten, vom Übersetzer hinzugefügten PrologProlog des griechischen Sirachbuches zurückzukommen, in dem der Übersetzer ausführlich über die Abfassung und Zielsetzung des BuchesBuch reflektiert und sich explizit an die AdressatenAdressat wendet. Damit gewährt er uns einerseits Einsichten in die intendierte Art und Weise der Rezeption der griechischen Übersetzung des Buches, andererseits aber auch in die Art und Weise der Rezeption und Verwendung der „kanonischenKanon“ Texte IsraelsIsrael. „Die Weisung und die ProphetenProphet und die anderen, die auf sie gefolgt sind“ (SirProl 1 fSirProl 1 f). Das vom Prolog vorausgesetzte LektürekonzeptLektüre-konzept der Schriften Israels (und, wie im Verlauf deutlich wird, auch des Sirachbuches selbst) wird in SirProl 4–6SirProl 4–6 sichtbar:

4 Und so ist es notwendig, dass nicht allein die LeserLeser (τοὺς ἀναγινώσκοντας) selbst wissend (ἐπιστήμων) werden,
5 sondern die Freunde des LernensLernen (τοὺς φιλομαθοῦντας) sollen imstande sein, auch denen außerhalb (ἐκτός) nützlich zu sein –
6 durch Sprechen und SchreibenSchreiben (καὶ λέγοντας καὶ γράφοντας).

      In diesen Versen wird eine doppelte Funktion des Lesens bzw. des LernensLernen der Schriften IsraelsIsrael sichtbar: der Erwerb von Wissen (ἐπιστήμη) und die Aneignung von Fähigkeiten zur Vermittlung durch das gesprochene Wort und Schrift. Der Kontext legt nahe, dass οἱ ἀναγιγνώσκοντες und οἱ φιλομαθοῦντες mindestens partiell deckungsgleich sind. Es geht nämlich um eine Form des Lernens durch intensive Lektüre.20 Die mit dem PartizipPartizip von ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω Angesprochenen subsumieren die Gesamtheit aller RezipientenRezipient; die „Freunde des Lernens“ gehören auch zum Kreis dieser Leserschaft, sind aber in besonderer Hinsicht herausgehoben, indem sie als Multiplikatoren fungieren (sollen),21 die den „Impuls der reichhaltigen TraditionenTradition Israels für eigene Aktivitäten“22 nutzen und zwar im Hinblick auf diejenigen,