Der Begriff ‚Heterogenität‘ hat im griechischen Adjektiv heterogenés seine Wurzeln, das aus heteros (= verschieden) und gennáo (= erzeugen, schaffen) zusammengesetzt ist (Prengel 2005, 20).
Definition
Im pädagogischen Kontext meint Heterogenität die Verschiedenheit der Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf ein oder mehrere Merkmale.
Dimensionen der Heterogenität
In der Schule und im Unterricht treten verschiedene Dimensionen der Heterogenität zutage, die für die Diagnoseverfahren und Differenzierungsmaßnahmen von Bedeutung sind:
• Vertikale Heterogenität: Das unterschiedliche Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler begegnet den Lehrkräften in vielen |9◄ ►10| Arbeitsbereichen des Unterrichts, sobald die Quantität und Komplexität der Anforderungen gesteigert wird.
• Horizontale Heterogenität: Den unterschiedlichen Interessen, Lernwegen und Zugangsweisen zu einem Thema oder einer Aufgabenstellung wird in der Schule meist zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl gerade darin oft der Schlüssel zum Lernerfolg liegt.
Neben den aufgeführten interindividuellen Differenzen gibt es intraindividuelle Unterschiede. So hat ein Schüler z.B. hervorragende Grammatikkenntnisse, aber große Lücken im Wortschatz. Ein anderer interessiert sich für Dichtung, findet aber zu politisch-historischen Texten keinen Zugang. Ein dritter kann die inhaltlich-fachlichen Anforderungen leicht erfüllen, aber hat Schwierigkeiten im Sozialverhalten usw.
Sowohl die interindividuelle als auch die intraindividuelle Heterogenität können sehr breit gestreut sein:
• In einer Grundschulklasse kann die interindividuelle Variabilität mehrere Jahre betragen: So kann z.B. das Entwicklungsalter der Kinder im Hinblick auf die Lesekompetenz von 5 ½ Jahren bis zu 8 ½ Jahren reichen (Largo / Beglinger 2009, 284).
• Auch die intraindividuelle Variabilität kann große Differenzen aufweisen: Ein Kind im Alter von 10 Jahren kann im Hinblick auf die sprachliche Kompetenz ein Entwicklungsalter von 12 Jahren, im Hinblick auf logische Denken hingegen ein Entwicklungsalter von 8 Jahren haben (Largo / Beglinger 2009, 285).
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Aspekte der Heterogenität
In einer heterogenen Lerngruppe können sich die Schülerinnen und Schüler in vielfältiger Weise voneinander unterscheiden. Einige Aspekte der bunten Vielfalt seien im Folgenden genannt:
• Kulturelle und nationale Identität: Die Schüler einer Klasse haben möglicherweise eine unterschiedliche kulturelle und nationale Identität – ein Aspekt, der vor allem bei der Frage der Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund von großer Bedeutung ist (Tanner 2006).
• Religiöse Sozialisation: Die religiöse Sozialisation von Kindern und Jugendlichen kann in einzelnen Klassen und Schularten stark differieren, so dass der interreligiöse und interkonfessionelle Dialog in Schule und Unterricht zunehmend an Bedeutung gewinnt (Burrichter 2005).
• Familiärer und sozio-ökonomischer Kontext: Sowohl in Deutschland als auch in Österreich und in der Schweiz werden der schulische und berufliche Erfolg maßgeblich von der sozialen Herkunft eines Menschen bestimmt. Die einschlägigen deutschsprachigen Studien zeigen sehr deutlich, dass vor allem Kinder aus bildungsfernen Schichten von Ausgrenzung und massiver Benachteiligung betroffen sind (KONSORTIUM Bildungsberichterstattung 2006, Maaz / Baumert / Cortina 2008 und Hartmann 2002).
• Kenntnisse und Lernvoraussetzungen: Viele Kinder kommen mit unterschiedlichen Kenntnissen und Lernvoraussetzungen in die Grundschule. Bereits zu Schulbeginn weisen sie eine bisweilen stark differierende Sprachkompetenz auf. Zu Recht plädieren die Experten deshalb für entsprechende Maßnahmen im Bereich der vorschulischen Frühförderung (Wellenreuther 2009).
• Lernwege und Lernstrategien: Immer wieder kann man im Unterricht die Beobachtung machen, dass Schüler auf unterschiedliche Art und Weise ein Thema erschließen oder die Ergebnisse eines Lernprozesses zusammenfassen können.
• Lern- und Arbeitsverhalten: Manche Kinder und Jugendliche verfügen über ein gutes Zeitmanagement, sind wohl organisiert, arbeiten zielgerichtet und legen eine enorme Ausdauer an den Tag. Andere hingegen können nur mit Mühe ihre Materialien zusammenhalten und ordnen, trödeln herum oder lassen sich schnell entmutigen. Das hat nicht selten zur Folge, dass einige Schüler Aufgaben in Windeseile erledigen, während andere gerade erst anfangen. |11◄ ►12|
• Leistungsmotivation: Die Lust und die Freude am Lernen – eine wesentliche Voraussetzung für schulischen Erfolg – sind nicht bei allen Schülern in gleicher Intensität anzutreffen, können von Fach zu Fach oder von Inhalt zu Inhalt differieren und sind mitunter auch vom Lehrer abhängig.
• Erfolgs- und Misserfolgsattribution: Kinder und Jugendliche haben unterschiedliche Erklärungsmuster für ihre Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse. Ob sie ihre guten oder schlechten Ergebnisse in der Schule eher äußeren oder inneren Faktoren zuschreiben, hat bekanntermaßen gravierende Konsequenzen für das Selbstwertgefühl und das Lernverhalten (Möller 2001).
• Temperamentsunterschiede: Kinder zeichnen sich durch unterschiedliche Temperamente aus (Zentner 1998), was für Eltern und Lehrkräfte eine besondere Herausforderung darstellt. Im schulischen Kontext können Temperamentsunterschiede weitreichende Folgen haben: Während Lehrkräfte extrovertierte Schüler in der Regel als intelligenter einschätzen und entsprechend unterstützen und herausfordern, neigen sie bei introvertierten und ängstlichen Kindern eher dazu, diese zu unterschätzen und ihnen weniger zuzutrauen (Jost 2003, 19-20 und Roedell / Jackson / Robinson 1989). Dies kann sich für die weitere Entwicklung der betroffenen Kinder sehr negativ auswirken.
• Geschlechtsbedingte Unterschiede: In jüngster Zeit geraten die geschlechtsbedingten Unterschiede verstärkt in den Fokus, nachdem über viele Jahrzehnte eine geschlechtsindifferente Sichtweise vorherrschte. Kapitel 4 widmet dieser Thematik einen längeren Abschnitt.
Die Lehrkräfte sind sich der großen Vielfalt in der Regel durchaus bewusst, was ein Blick in zahlreiche Unterrichtsentwürfe von Referendaren bestätigt, die ihre Klasse meist sehr differenziert beschreiben. Doch nur selten hat diese Erkenntnis Konsequenzen für die Unterrichtsgestaltung.
Kernaussage
Viele Lehrer gehen von einem fiktiven Mittelmaß aus und praktizieren das Lernen im Gleichschritt nach dem Prinzip des sogenannten 7-G-Unterrichts: Die gleichen Schüler lösen beim gleichen Lehrer im gleichen Raum zur gleichen Zeit im gleichen Tempo die gleichen Aufgaben mit dem gleichen Ergebnis. Doch es ist sicher ein große Illusion zu glauben, erfolgreiches Lernen lasse sich nach diesem Prinzip des Gleichschritts organisieren.
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Lernen ist grundsätzlich ein individueller Vorgang. Lässt man nur einen Lernweg im Gleichschritt zu, kann man am Ende zwar feststellen, wie viele Schüler genau auf diesem Weg wie weit gekommen sind. Aber man wird nicht erfahren, ob nicht einige Schüler auf einem der denkbaren anderen Wege viel weiter gekommen wären. Nicht selten werden beim Lernen im Gleichschritt leistungsschwächere Schüler entmutigt und schalten ab, während es den besonders begabten und interessierten längst langweilig ist, so dass sie sich möglicherweise anderen Beschäftigungen zuwenden oder ihre Mitschüler ablenken und damit ebenfalls den Lernprozess stören.
Kernaussage
Statt den Unterricht an einem fiktiven Durchschnittsschüler auszurichten, gilt es, sich der Heterogenität bewusst zu werden und ihr durch differenzierende Maßnahmen auf der inhaltlichen, didaktischen, methodischen, sozialen und organisatorischen Ebene so weit wie möglich gerecht zu werden.
Bildungspolitische Entwicklung
Die