Kernaussage
Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung. Das öffentliche Schulwesen ist nach diesem Grundsatz zu gestalten (Landesverfassung Baden-Württemberg, Artikel 11).
In der bildungspolitischen Diskussion der Vergangenheit und Gegenwart gab und gibt es zwei Richtungen, auf die heterogenen Lerngruppen zu reagieren, nämlich die innere und die äußere Differenzierung.
Definition
Bei der inneren Differenzierung bzw. Binnendifferenzierung wird die heterogene Lerngruppe als Chance betrachtet: Nach dem Prinzip der Modifikation bzw. Integration wird der Unterricht und die Lernumwelt unter Beibehaltung des Klassenverbandes soweit wie möglich an den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der einzelnen Schülerinnen und Schüler ausgerichtet und entsprechend angepasst.
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Die Vertreter dieses integrativen Ansatzes sehen die innere Differenzierung vor allem als Möglichkeit, im Schul- und Unterrichtsalltag demokratisches Denken und Handeln einzuüben. Denn die Schüler lernen eher in heterogenen als in homogenen Lerngruppen Denk- und Verhaltensweisen kennen, die vom Durchschnitt abweichen, und können sich darin üben, mit dieser Andersartigkeit und Unterschiedlichkeit konstruktiv und kooperativ umzugehen (Graumann 2002 und Knauer 2008).
Definition
Bei der äußeren Differenzierung werden nach dem Prinzip der Selektion bzw. Segregation durch verschiedene Auswahlverfahren möglichst homogene Lerngruppen gebildet, die über einen längeren Zeitraum voneinander räumlich getrennt unterrichtet werden.
Die äußere Differenzierung kann über verschiedene vorab definierte Kriterien, wie z.B. Schulleistung, Neigung, Religionszugehörigkeit u.a. erfolgen und in eine interschulische oder intraschulische Differenzierung münden (vgl. Schaubild auf der folgenden Seite).
Der Wunsch nach homogenen Lerngruppen erweist sich in der Praxis freilich als Illusion, da Homogenität jeweils nur für ein einzelnes Kriterium hergestellt werden kann. Auch im gegliederten Schulsystem ist eine heterogene Schülerschaft trotz zahlreicher Selektionsstrategien der Normalfall (Bräu 2005). Zudem besteht bei den leistungsorientierten Selektionsmaßnahmen die Gefahr, dass Aspekte des personalen und sozialen Lernens zu sehr in den Hintergrund treten.
Prinzip der Passung
Die Zielsetzung der inneren und äußeren Differenzierung besteht darin, eine optimale Passung – also eine möglichst große Übereinstimmung zwischen Individuum und Umwelt bzw. zwischen Schüler und Unterricht – herzustellen. Dadurch soll bei möglichst vielen Schülern ein Optimum erreichbarer Lernfortschritte bewirkt werden.
Sowohl die innere als auch die äußere Differenzierung kann je nach Kontext ihre Berechtigung haben. Auf die bisweilen sehr einseitig und ideologisch geführte bildungspolitische Diskussion, ob zur Förderung unterschiedlicher Begabungen ein gegliedertes Schulwesen oder eine Gesamtschule geeigneter ist, soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Dem Leser sei die Lektüre der am Ende des Kapitels aufgeführten Literatur empfohlen.
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Kernaussage
Als Richtschnur für Schule und Unterricht empfehlen wir, so viel innere Differenzierung wie möglich und so viel äußere Differenzierung wie nötig zu praktizieren. Außerdem sollten individuelles und kooperatives Lernen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.
Das Schaubild vermittelt einen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten der inneren und äußeren Differenzierung.
Überblick über Möglichkeiten der inneren und äußeren Differenzierung
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Kompetenzorientiertes Lernmodell
Im Zusammenhang mit der Forderung einer differenzierten und individuellen Förderung der Schüler spielt der kompetenzorientierte Lern-und Leistungsbegriff eine wichtige Rolle, der einem ganzheitlichen Menschenbild verpflichtet ist.
Vor dem Hintergrund der zum Teil rasanten gesellschaftlichen Veränderungen, welche von der Schule die Vermittlung einer umfassenden Handlungskompetenz einfordern, wird der Ruf nach einer Ergänzung und Erweiterung des traditionellen Bildungs- und Lernbegriffs immer lauter. Denn mit fachlichem Know-how allein können die Schüler die gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen nicht meistern. Sie müssen vielmehr über weitere Kompetenzen verfügen, wie z.B. Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft, hohe Frustrationstoleranz, geschicktes Zeitmanagement, Kooperationsbereitschaft, Problemlösestrategien, Solidarität etc.
Definition
Unter Kompetenzen versteht man Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die Bereitschaft und die Fähigkeit, die Problemlösestrategien in unterschiedlichen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.
Kompetenzbereiche
Die neuen Bildungspläne haben als Steuerungsinstrument für Bildungsqualität entsprechende Bildungsstandards formuliert, die sich in vier Kompetenzbereiche aufteilen lassen (z.B. Bildungsplan 2004 Grundschule, Baden-Württemberg, 12):
• Inhaltlich-fachliche Kompetenzen: grundlegende fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten besitzen und anwenden etc.
• Methodische Kompetenzen: erfolgreich planen, organisieren, gestalten, visualisieren, strukturieren usw.
• Personale Kompetenzen: Selbstvertrauen entwickeln, sich realistisch einschätzen, Engagement zeigen, Werthaltungen aufbauen u.a.
• Soziale Kompetenzen: andere Menschen wahrnehmen, ihnen zuhören, mit ihnen kooperieren, Konflikte lösen etc.
Die angestrebten Kompetenzen entwickeln sich nicht in einem luftleeren Raum, sondern sind den Einflüssen zahlreicher externer Faktoren ausgesetzt|16◄ ►17| (z.B. Familie, Schule, Freundeskreis), die auf die jungen Menschen einwirken. Außerdem überlappen sich die verschiedenen Kompetenzen und ergänzen einander, wie das folgende Schaubild zeigt:
Nur im erfolgreichen Zusammenspiel dieser vier Lernbereiche können unsere Schüler umfassende Handlungskompetenz entwickeln.
Kernaussage
Durch die Vermittlung fachlicher wie auch überfachlicher Kompetenzen sollen die Schüler dafür gerüstet werden, unterschiedliche Herausforderungen innerhalb wie außerhalb der Schule zum Wohle der Gemeinschaft und Gesellschaft meistern zu können.
Freilich bildet das dargestellte Modell (noch) nicht die Schulwirklichkeit ab, da die vier Kompetenzbereiche an vielen Schulen, insbesondere Gymnasien im Unterricht nicht gleichwertig vertreten sind. Die inhaltlichen Kompetenzen haben in den meisten Schulen und Fächern nach wie vor eine deutliche Vorrangstellung, während die anderen drei Bereiche eher |17◄ ►18| ein Schattendasein führen und meist nur am Rande oder außerhalb des Fachunterrichts in besonderen Projekten zur Geltung kommen (Grunder / Bohl 2001, 15–17). Doch der erweiterte Lern- und Leistungsbegriff fordert dazu auf, den ganzheitlichen Ansatz möglichst weitgehend auch im ganz normalen Fachunterricht zu praktizieren.
Die Grundlage für die Vermittlung der verschiedenen Kompetenzbereiche bilden schülerorientierte Arbeitsformen, bei denen die Schüler in einem umfassenden Sinn selbstständig entdecken und lernen sowie Teamfähigkeit entwickeln können. Diese offenen Arbeitsformen schenken den Schülern Vertrauen in ihre Fähigkeiten und übergeben ihnen statt einer passiven Konsumentenrolle den aktiven Part; denn ein Unterricht, der ausschließlich auf lehrerzentrierten Lernformen basiert, kann zwar meist recht gut die