Prognose und dem Befund der Erhebung: Der Pädagoge vergleicht seine persönliche Prognose mit dem tatsächlichen Befund, um herauszufinden, ob es eine Differenz gibt und wie hoch diese ist (Helmke 2003, 99).
5. Analyse möglicher Diskrepanzen zwischen Prognose und Befund: Sofern Unterschiede zwischen dem erwarteten und tatsächlichen Ergebnis festgestellt werden, sucht der Lehrer gemeinsam mit dem Schüler und gegebenenfalls mit den Eltern nach Gründen und überlegt sich, wie er eine Fehleinschätzung künftig vermeiden kann. Auch ein Austausch mit Kollegen, welche die betreffenden Schüler aus dem Unterricht kennen, kann wichtige Hinweise für eigene Urteilsfehler geben.
6. Festlegung der nächsten Schritte zur Verbesserung der Diagnosekompetenz: Der Lehrer überlegt sich konkrete Schritte zur Weiterentwicklung seiner Diagnosekompetenz. Dafür wählt er ein Merkmal der Schüler, der Unterrichtsgestaltung oder der Aufgabenstellung aus, anhand dessen er seine diagnostischen Fähigkeiten auf den Prüfstand stellen und verbessern kann. Damit schließt sich der Kreis.
Kriterien und Kompetenzbereiche der Diagnose
Kernaussage
Bei der Diagnose sollten nicht nur die aktuellen Kenntnisse und Fähigkeiten der Schüler in Form einer ergebnisorientierten Diagnose, sondern auch das Arbeitsverhalten sowie die Interessen, Lernwege|22◄ ►23| und bevorzugten Sozialformen im Sinne einer prozessorientierten Diagnose einbezogen werden.
Nur so kann es gelingen, neben der vertikalen und interindividuellen Heterogenität auch der horizontalen und intraindividuellen Heterogenität angemessen Rechnung zu tragen und eine Förderdiagnostik zu etablieren. Grundlage einer prozessorientierten Diagnose bilden dem erweiterten Lern- und Leistungsbegriff zufolge folgende Kriterien und Kompetenzbereiche (vgl. auch Kapitel 1):
• Fachliche Kompetenzen: fachspezifische Kenntnisse und Fähigkeiten
• Methodische Kompetenzen: Lern- und Arbeitstechniken, wie z.B. das Sammeln und Strukturieren von Informationen, selbstständige Erschließung von deutschen und/oder fremdsprachlichen Texten, Umgang mit Hilfsmitteln, Memorierungstechniken etc.
• Personale Kompetenzen: Anstrengungsbereitschaft, Selbstständigkeit, Kritikfähigkeit u.a.
• Soziale Kompetenzen: Fähigkeit zur Kommunikation und Kooperation usw.
Phasen eines Diagnose- und Förderprozesses
Vor allem bei Schülerinnen und Schülern mit erheblichen Lernschwierigkeiten sowie mit außergewöhnlichen Begabungen ist ein intensiver Diagnose- und Förderprozess angeraten, in den die Schüler und eventuell auch die Eltern einbezogen werden sollten. Der individuelle Diagnose- und Förderprozess verläuft in der Regel in vier Phasen:
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• Wahrnehmen: Lehrer, Schüler und eventuell Eltern nehmen durch Beobachtung und Gespräch die Stärken und Schwächen des Lernenden wahr. Als Grundlage können schriftliche Arbeiten, Hausaufgaben, Selbstbeobachtungen durch den Schüler, Fremdbeobachtungen durch den Lehrer und/oder die Eltern dienen (Paradies / Linser / Greving 2007). Für die Lehrkraft eignen sich vor allem Phasen des offenen Unterrichts, um das Arbeits- und Lernverhalten einzelner Schüler zu beobachten.
• Verstehen: Die am Diagnoseprozess beteiligten Personen tauschen sich über ihre Beobachtungen aus und versuchen sie zu deuten. Voraussetzung ist eine offene und vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre sowie die Bereitschaft aller Beteiligten, sich der eigenen subjektiven Sichtweise stets bewusst zu sein und Deutungen gegebenenfalls zu ergänzen, zu relativieren oder zu korrigieren.
• Entscheiden: Die beteiligten Personen tauschen sich über mögliche Maßnahmen aus und setzen gemeinsam Ziele für den weiteren Lernprozess fest, die in einen Förderplan (Höhmann 2004) oder in eine Lernvereinbarung münden können. Dabei ist darauf zu achten, dass der Schüler auch in dieser wichtigen Phase Hauptakteur seines Lernprozesses bleibt. Die anderen Personen haben lediglich eine beratende Funktion.
• Überprüfen: Beteiligte Lehrer, Schüler und eventuell Eltern geben sich in regelmäßigen Abständen gegenseitig eine Rückmeldung, inwieweit und weshalb die gesetzten Ziele erreicht bzw. nicht erreicht wurden, und treffen weitere Absprachen und Vereinbarungen. Um die Ernsthaftigkeit des Diagnose- und Förderprozesses zu unterstreichen, sollten alle Phasen schriftlich dokumentiert werden.
Instrumente des Diagnose- und Förderprozesses
Im schulischen Kontext können bereits etablierte Verfahren sowie neue Instrumente zum Einsatz kommen:
• Beurteilung schriftlicher und mündlicher Schülerleistungen: Sowohl die schriftlichen und mündlichen Lernerfolgskontrollen als auch die Beiträge der Schüler im bzw. für den Unterricht stellen eine wichtige Grundlage für die Diagnose dar (vgl. dazu Kapitel 5).
• Diagnosebögen für die individuelle Förderplanung: Besonders hilfreich sind nach unserer Erfahrung prozessorientierte Diagnosebögen, bei denen der Schüler nicht nur seine Ergebnisse in den Blick nimmt, |24◄ ►25| sondern auch sein Arbeitsverhalten, seine Lernwege, seine bevorzugten Sozialformen etc. reflektiert (vgl. Kapitel 4, SOS-Fragebogen für Schüler mit Problemen in Mathe). Denn oft ist die Kenntnis, wie ein Schüler erfolgreich lernt bzw. nicht erfolgreich lernt, für die anschließende Förderung wichtiger als die Frage, was er gelernt bzw. nicht gelernt hat. Praxisorientierte Anregungen samt Kopiervorlagen findet der interessierte Leser in der am Ende des Kapitels aufgeführten Literatur.
• Individuelle Lernvereinbarungen: Bei einer individuellen Lernvereinbarung sollten verschiedene Aspekte beachtet werden (vgl. das Beispiel auf der folgenden Seite): Zum einen sollten nur wenige, möglichst kleine (bewältigbare!) und konkrete Schritte vereinbart werden. Sodann ist es wichtig, dem betreffenden Schüler – sofern nötig – Unterstützung und Begleitung anzubieten bzw. zu vermitteln, z.B. durch seinen Lehrer, seine Mitschüler, seine Eltern etc. Schließlich sollten alle Beteiligten festlegen, woran man erkennen und wie man überprüfen kann, ob die gesetzten Ziele erreicht wurden. Darüber hinaus überlegen sich alle „Vertragspartner“ der Lernvereinbarung, bis wann die vereinbarten Ziele erreicht sein sollen. Motivationsfördernd für den weiteren Lernweg kann eine Belohnung sein, sofern das gesetzte Ziel erreicht wird.
Abschließend sei ausdrücklich betont, dass lang anhaltende, sehr schwierige und komplexe Frage- und Problemstellungen in jedem Falle von einem Beratungslehrer, Arzt oder Psychologen abgeklärt werden sollten (Lauth / Grünke / Brunstein 2004).
Für die Begleitung von Schülerinnen und Schülern mit Lernschwierigkeiten empfiehlt es sich, ein Tutorensystem mit Lernpatenschaften zu etablieren, bei dem Lehrkräfte oder geeignete Schüler Beratung und Unterstützung anbieten können (Klippert 2010 und Wellenreuther 2009).
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Beispiel: Individuelle Lernvereinbarung in Klasse 6
Literatur
Kliemann 2008: Breit gefächerter Überblick mit praxisorientierten Diagnose- und Fördermöglichkeiten für die Sekundarstufe I.
Paradies / Linser / Greving 2007: Praktische Verfahren und Instrumente zur individuellen Diagnose und Förderung mit zahlreichen Kopiervorlagen
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