Oliver Jens Schmitt

Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter


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vor allem zwischen dem kleinen Ort Quintanis/Küntzing westlich von Passau und der Wachau bzw. dem Wienerwald im Osten tätig war. Nach Süden erstreckte sich sein Einfluss auch auf Binnen-Noricum bis in das heutige Slowenien.

      Transformation römischer Staatlichkeit

      Viel Präsenz zeigte das Römische Reich zu diesem Zeitpunkt in der Region allerdings nicht mehr: So sind aus diesem Zeitraum gerade zwei Bleisiegel des in Konstantinopel residierenden Kaisers Markianos († 457) und drei Goldmünzen des weströmischen Kaisers Anthemius († 472) erhalten. Wie die sukzessive Aufgabe militärischer und ziviler Verwaltungsstrukturen bis zum Abzug der geistlichen Gemeinschaft Severins sechs Jahre nach seinem Tod († 482) vonstatten ging, davon erzählt unter anderem seine Lebensbeschreibung. Gleichzeitig macht sie aber auch deutlich, dass und wie ein Leben in den Grenzregionen in dieser Umbruchsituation möglich war und worin seine alltäglichen militärischen, sozialen und spirituellen Herausforderungen bestanden. Sie erzählt von „barbarischen“ Übergriffen, der Verschleppung und Versklavung von Angehörigen der provinzialrömischen Bevölkerung ebenso wie von Handelsbeziehungen und dem Besuch rugischer Wochenmärkte (c. 6,4; 9,1; 22,2), aber auch von Verhandlungen und [<<84] Verträgen, die in diesen Jahrzehnten nicht mehr durch das west- bzw. oströmische Kaisertum in Ravenna und Konstantinopel geschlossen wurden, sondern durch seine Vertreter vor Ort, jedoch meist ohne explizites politisches Mandat. Oft handelte es sich dabei um Bischöfe, wie im Fall des Constantius von Lauriacum/Lorch, dem ehemaligen Legionslager und einzigen Bischofsstadt an der Donau. Er gehörte der einheimischen Oberschicht an und war der Onkel des berühmten (Hl.) Antonius von Lérins, der seinerseits in Severins Gemeinschaft erzogen wurde und über den im Jahr 506, also nur kurz vor der Abfassung der Severins-Vita, der hoch gebildete Bischof Ennodius von Pavia eine eigene berühmte Lebensbeschreibung, die Vita S. Antonii, verfasste.

      Severin sagt einem Paulinus die Wahl zum Bischof des binnen-norischen Teurnia voraus (c. 21), und auch ihm selbst wird die Bischofswürde angetragen, die er jedoch ablehnt (c. 9,4). Einen weiteren Bischof nennt Kapitel 4, das von einem Überfall „barbarischer Räuber“ (praedones barbari) auf Favianis/Mautern, dem Zentrum von Severins Wirkens, erzählt:

      Da eilten mehrere Bürger unter Tränen zu dem Manne Gottes und berichteten ihm von dem schrecklichen Unglück, das ihnen widerfuhr; gleichzeitig wiesen sie ihn auf Beweise für die neuerlichen Plünderungen hin. Severin aber fragte Mamertinus, den ehemaligen Stadtkommandanten, der später in das Bischofsamt eingesetzt wurde, ob er einige bewaffnete Männer habe, mit denen er die Straßenräuber verfolgen könne. Dieser antwortete: „Ich habe wohl einige wenige Soldaten, wage aber nicht, mit einer so großen feindlichen Schar den Kampf aufzunehmen. Doch wenn deine Ehrwürden es anordnet, glauben wir, durch dein Gebet Sieger zu werden, auch wenn uns die Hilfe der Waffen fehlt“. (c. 4,1–2)

      Aufgaben der Kirche

      An diesem wie an zahlreichen anderen Beispielen aus der Vita wird zweierlei deutlich: Zum einen zeigt sich die enge Verflechtung weltlicher und geistlicher Aufgaben in der Praxis, ebenso wie die einzelnen Ämter auch funktional nicht scharf gegen einander abgegrenzt sind. Die politische Ordnung der römischen Provinzialorganisation und jene der bereits gut etablierten kirchlichen Strukturen überlappen einander. Die Vita nennt eine Reihe von Gemeindekirchen (ecclesiae) und Klosterkirchen (basilicae) entlang der Donau. Für Binnennoricum wird dies durch archäologische Funde ergänzt. Als sich die römische Verwaltung schrittweise aus dem Raum zurückzieht, übernehmen [<<85] die Bischöfe ihre Aufgaben. Wie Severin selbst dürften sie jeweils von einer befestigten Siedlung aus (oppidum vel castellum, c. 11,1; 17,1) für das jeweilige Umland Verantwortung übernommen haben. Zum anderen lässt die Vita keinen Zweifel daran, dass der charismatische Heilige durch seine von Gott gegebene Autorität und mittels seiner vielfältigen Kompetenzen politische ebenso wie geistliche Aufgaben übernimmt. Ihre Integration zum Schutz der Bevölkerung ist aber klar dem Kampf mit geistlichen Waffen verpflichtet – Beten, Fasten, Almosen geben sind die wichtigsten unter ihnen. Die asketische Vorbildlichkeit des Heiligen wird dabei ebenso betont wie die Regelmäßigkeit der Gottesdienste. Der Alltag im Grenzgebiet an der Donau ist christlich geprägt. Hier werden deutlich frühere Hinweise auf die Verbreitung des Christentums, wie das Martyrium des Hl. Florian († 304) in der Enns bei Lorch oder der Grabstein der Christin Ursa (um 400 bei Wels), der von ihrem offenkundig noch nicht christlichen Ehemann gesetzt wurde (→ Kap. 2.2.2), auf breiterer Basis bestätigt.

      Severins Wirken

      Severin selbst zieht sich regelmäßig in eine kleine Zelle „an den Weinbergen“ (ad Vineas, c. 4,6) zurück, eine abgeschiedene Behausung […], die von den Anwohnern Burgus genannt wurde und von Favianis eine Meile entfernt war, um den vielen Menschen, die ständig kamen, auszuweichen und in unablässigem Gebet enger mit Gott verbunden zu sein. (c. 4,7) Regelmäßig sucht etwa der Rugierkönig Flaccitheus seinen Rat und seine Gabe, in die Zukunft zu sehen (c. 5). Dessen Sohn Feletheus und seine „böse“ gotische Gattin Giso, die als Arianerin sogar katholische Christen wiedertaufen will, werden ermahnt bzw. von Gott bestraft (c. 8). Beide respektieren die Autorität Severins, ebenso wie der Alemannen-König Gibuld in seiner Anwesenheit vor Furcht zu zittern beginnt (c. 9,2). Und dem damals noch ärmlich gekleideten Odoaker sagt er bei einem Besuch seine große Zukunft in Italien voraus (c. 7). Immer wieder wird der Heilige als Vermittler tätig, schließt Verträge, kümmert sich um den Schutz der Provinzialen nicht nur gegen feindliche Übergriffe, sondern auch vor Überschwemmungen und Nahrungsknappheit, organisiert ihre Versorgung, Kleidung und Hilfsgüter und hebt den Zehnt ein (c. 17, 2–4; 18, 1). Er wirkt zahlreiche Wunder, die zum überwiegenden Teil im Vorhersehen zukünftiger Ereignisse (und der dadurch möglichen Abwendung von Gefahren) bestehen, aber auch in der häufigen Heilung von Kranken [<<86] oder in der Vermehrung des knappen Öls (c. 28). Zwischen 467 und seinem Tod 482 lässt sich Severins Wirken an der Donau konkret rekonstruieren; wenige Ereignisse, und keines mit Sicherheit, lassen sich in das Jahrzehnt davor datieren.

      Die Person Severin

      Wer aber war Severin? Seine Lebensbeschreibung nennt ihn in verschiedenen Varianten einen Heiligen und Diener des Herrn, er handelt im Auftrag Gottes und in der Nachfolge Christi. Wenn er auch Mönche (monachi, c. 9,4) bzw. Geistliche (spiritales, c. 13,2) um sich schart, so ist er selbst weder Mönch noch Priester, kein Abt und Bischof, aber auch kein römischer Beamter oder Träger eines offiziellen Mandats. Auch über seine Herkunft ist wenig bekannt. Eugippius lässt den Heiligen in seinem Schreiben an Paschasius beredt schweigen:

      Was nützt dem Knecht Gottes die Angabe seines Geburtsortes oder seiner Familie, wenn er dadurch, daß er darüber lieber schweigt, leichter der Prahlsucht, die etwas Widerwärtiges ist, entgeht? (Ep. 9)

      Daraus wurde auf eine hohe Herkunft des Heiligen geschlossen. Bischof Ennodius erwähnt ihn in seiner Antonius-Vita als vir illustrissimus, was sowohl im Sinn eines Angehörigen des römischen Senatorenstandes, aber ‒ wohl plausibler ‒ im Sinn der besonderen Ehrerbietung für den Heiligen interpretiert worden ist. Eine römische Ämterlaufbahn des homo omnino Latinus (Ep. 10) lässt sich jedenfalls auf Basis der vorhandenen Quellen nicht rekonstruieren. Vor seiner Tätigkeit in Ufernorikum sei Severin, so Eugippius in seinem Brief an Paschasius weiter, auf der Suche nach einem eremitischen Leben in einer Wüste im Osten gewesen und dann durch göttliche Offenbarung in die bedrängten Städte von Noricum in der Nachbarschaft Pannoniens gekommen (ebd.).

      Die Gemeinschaft des Eugippius in Süditalien

      Diese Schilderung ist selbstverständlich genauso topisch wie die Lebensbeschreibung Severins selbst. Der „historische“ und der hagiographisch wie politisch stilisierte Heilige lassen sich ebenso wenig voneinander trennen wie die geistlichen und politischen Herausforderungen der Zeit. Auf sie verweisen Vita und Brief, der Antwortbrief des Paschasius an Eugippius, aber auch dessen übrige Werke, darunter eine Klosterregel für seine Gemeinschaft und eine Zusammenstellung von Werken des Hl. Augustinus. Als Vorsteher seines Klosters bei Neapel war Eugippius Teil eines sozialen Beziehungsgeflechts, in dem politische und geistliche Faktoren aufs engste miteinander verwoben [<<87] waren. Dies wird am Beispiel jener illustris femina Barbaria deutlich, die vielleicht die Witwe des von Odoaker ermordeten Orestes und Mutter des abgesetzten letzten Kaisers