Oliver Jens Schmitt

Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter


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geordneten knappen Notizen (→ Kap. 3.3.4), zu den maßgeblichen frühen schriftlichen Quellen zur [<<91] bayerischen Geschichte, aber auch zu jener des Konflikts zwischen den Karolingern als neuen Trägern der fränkischen Herrschaft und ihren bayerischen Verwandten, der agilolfingischen Herzogsfamilie. Alle drei Heiligenleben wurden außerdem in einem Zeitraum geschrieben, als es die Auseinandersetzung zwischen dem mächtigen Bayernherzog Tassilo III. und Karl dem Großen für die Salzburger Kirche klug erscheinen ließ, sich der Gunst beider, der Agilolfingerherzöge wie der Frankenkönige, zu versichern.

      Geistliche Kultur

      Neben den Bistümern sind die bayerischen Klöster als Träger von schriftlicher Kultur von herausragender Bedeutung. Im 8. Jahrhundert wurden neben dem Domstift von St. Peter in Salzburg durch den Hl. Rupert und der Frauengemeinschaft auf dem Nonnberg unter seiner Nichte Erintrudis als erster Äbtissin unter anderen die Klöster Mondsee, Niederaltaich, Kremsmünster sowie das Passauer Domstift gegründet und von den bayerischen Herzögen mit umfangreichem Grundbesitz ausgestattet. In den Klöstern wurden Handschriften vor allem für den liturgischen Gebrauch hergestellt, die gleichzeitig zum Erlernen der lateinischen Sprache dienten. Der wichtigste Text war die Bibel; Latein, die Sprache der christlichen Liturgie, lernte man zunächst anhand der Psalmen des Alten Testaments. Die Bücher, die man für unterschiedliche liturgische und pastorale Zwecke wie für die Lektüre im Rahmen des monastischen Tagesablaufs und der Ausbildung benötigte, brachten die Missionsgeistlichen mit. In den Skriptorien der Klöster wurden sie kopiert und oft mit reichen Illustrationen ausgestattet: solche illuminierten Codices enthielten Psalterien, Sakramentare mit Mess- und Weiheformeln, Evangeliare und verschiedene Lektionare mit Lesungen aus dem Alten und Neuen Testament, darüber hinaus Gesangbücher, Sammlungen von Heiligenlegenden (Legendarien), Texte der Kirchenväter, exegetische und erbauliche Schriften, theologische Traktate sowie Texte, welche die wichtigsten Wissensbestände der Artes liberales (bestehend aus dem Trivium ‒ Grammatik, Rhetorik, Dialektik ‒ und dem Quadrivium ‒ Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) vermitteln sollten.

      Zu den prachtvollsten frühen Werken im Betrachtungsraum gehören das exquisit illuminierte Cuthberht-Evangeliar aus der Schreibschule von St. Peter in Salzburg, das in der Zeit der Bischöfe Virgil oder Arn entstanden ist (Cod. Vind. 1224), und eine Handschrift [<<92] mit naturphilosophischen und chronologischen Texten mit den ältesten Monatsbildern (Cod. Vind. 387). Zwei der Legendarien aus diesem Skriptorium zählen zu den ältesten im deutschen Sprachraum überhaupt.

      Memorialüberlieferung

      Im Jahr 784 wurde noch unter Bischof Virgil der Liber confraternitatum, das Salzburger Verbrüderungsbuch, angelegt, ein Verzeichnis aller Lebenden und Toten, für die das Kloster eine Gebetsverpflichtung trug. Der ältere Teil der Handschrift – einer der ältesten in karolingischer Minuskel im Stil von St. Denis – reicht bis zum Ende des 9. Jahrhunderts und enthält etwa 8.000 Eintragungen, darunter die älteste Salzburger Bischofsreihe, die Namen der agilolfingischen Herzöge und fränkischen Könige mit ihren Frauen und Kindern, von Äbten und Äbtissinen, Grafen und Großen. Der jüngere Teil reicht von 1004 bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts. Vergleichbare Aufzeichnungen zur Bewahrung der memoria der Verstorbenen, um durch Gebet für ihr Seelenheil Sorge zu tragen, sind in den Nekrologen vieler Klöster erhalten und gehören zu den wichtigsten zeitgenössischen Quellen zur Rekonstruktion prosopographischer Daten und Beziehungskonfigurationen zwischen Menschen innerhalb und außerhalb geistlicher Institutionen. Für das frühmittelalterliche Mitteleuropa lässt sich anhand des Salzburger Liber confraternitatum gemeinsam mit dem Reichenauer Verbrüderungsbuch und dem Liber vitae aus Cividale ein guter Teil der bayerischen politischen und geistlichen Eliten und ihre Bemühungen um die Christianisierung der slawischen Großen wie der Bevölkerung im Donau- und Ostalpenraum und des bayerischen „Ostlandes“ (plaga orientalis) erschließen.

      Eine Geschichte der Bekehrung der Bayern und Karantanen

      Ein weiteres außergewöhnliches Beispiel der Salzburger Überlieferung sowohl hinsichtlich seines historischen Erkenntniswertes, mindestens genauso aber aufgrund seiner subtilen ré-écriture verschiedener Überlieferungsbestände und ihrer Integration in eine kirchenpolitische Denkschrift ist die von der modernen Geschichtsschreibung so genannte Conversio Bagoariorum et Carantanorum, die wohl 870 verfasst wurde und von Herwig Wolfram als „Weißbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanien und Pannonien“ bezeichnet wurde (32013).

      In den abermals mehr als hundert Jahren, die seit der bayerischen Bistumsorganisation durch Bonifatius vergangen waren, hatte sich die [<<93] bayerisch-salzburgische Mission parallel zur militärischen fränkisch-bayerischen Expansion nach Süd-Osten ausgedehnt, zunächst seit den 740er Jahren nach Karantanien. Davon erzählt die „Bekehrungsgeschichte“ im Rückblick aus der Perspektive des späten 9. Jahrhunderts, als es darum ging, die Ansprüche des Salzburger Erzbistums in Pannonien gegenüber den von Byzanz und später auch Rom unterstützten orthodoxen Missionsbestrebungen der Brüder Konstantin/Kyrill und Method zu verteidigen. Dementsprechend erzählt die Conversio eine bruchlose Geschichte der erfolgreichen Salzburger Mission und blendet dabei konsequent alle Ereignisse aus, die quer zu dieser Erfolgsgeschichte liegen.

      Bayerische Mission in Karantanien

      Denn der Zeitraum zwischen der bayerischen Karantanenmission und der Missionskonkurrenz seit den 860er Jahren ist geprägt von einer Vielzahl von Konflikten, die sich auch in der komplexen Geschichte der durchaus nicht widerstandslos erfolgten Verbreitung des Christentums in Karantanien äußern. 741/2 hatte der Karantanenfürst Boruth den Agilolfingerherzog Odilo gegen die Awaren zu Hilfe gerufen; der gemeinsam errungene Sieg führte allerdings zur politischen Abhängigkeit der Karantanen von den Bayern. In der Folge wechselten Bitten der Karantanen um Entsendung von Missionspriestern mit karantanischen Unruhen ab. Auf der kirchenpolitischen Ebene erhielt Salzburg päpstliche Bestätigungen seiner Zuständigkeit für Karantanien für diese Missionstätigkeit. Dass es daneben ebensolche Initiativen seitens Aquileias und Freisings gab, bleibt jedoch – der Intention der Schrift entsprechend – in der Conversio gänzlich unerwähnt.

      Herrschaftskonflikte

      Ein weiterer maßgeblicher Faktor im Hintergrund der Bekehrungsgeschichte waren die Auseinandersetzungen zwischen dem karolingischen Königtum und den Bayernherzögen, die im Konflikt zwischen Karl dem Großen und Tassilo III. ihren Höhepunkt fanden. 788, also 16 Jahre nach dem letzten großen militärischen Erfolg des Bayernherzogs in Karantanien (772), wurde er durch den König abgesetzt. Die bayerischen Selbständigkeitsbestrebungen wurden durch die Unterwerfung des Herzogtums unter die fränkische Oberhoheit vollständig unterbunden. Dem endgültigen karolingischen Sieg über die Awaren kurz darauf folgte auch eine administrative Neuordnung des Raumes, unter anderem mit der Einrichtung des bayerischen Ostlandes, das in der Conversio 70 Jahre später erstmals als plaga orientalis bezeichnet [<<94] wird (c. 10). Für die neue Grenzorganisation waren zunächst königliche Beauftragte zuständig. Ab der Mitte des 9. Jahrhunderts wurden hier Mitglieder der königlichen Familie eingesetzt, die den Raum zunehmend für ihre abermals recht eigenständige Herrschaftsbildung im Grenzgebiet nutzten. 822, in demselben Jahr, in dem die Annales regni Francorum zum letzten Mal die Awaren erwähnen, werden zum ersten Mal die Mährer genannt. Eine Generation später (858) kämpfte Karlmann, der Sohn Ludwigs des Deutschen, gegen den bereits mächtigen Mährerfürsten Rastislav. Die jahrelangen Auseinandersetzungen, Friedensschlüsse und Allianzen, die sich in diesem und dem folgenden Jahrzehnt im Grenzland zu Mähren und zu Pannonien abspielten und in deren Rahmen innerkarolingische Herrschaftskonflikte wie Parteikämpfe zwischen den jeweils involvierten Adelsgruppen, also den Großen des Landes, ausgetragen wurden, bilden den Hintergrund für die weiteren Missionsbestrebungen sowohl in Mähren als auch in Pannonien.

      Urkundliche Überlieferung

      Eine Konsequenz solcher Konflikte ist die vergleichsweise gute Überlieferungslage. Dass man in Zeiten politischer Instabilität Maßnahmen zur Sicherung seiner „alten Rechte“ ergriff, war im Bayern des 9. Jahrhunderts nichts Neues. Die wichtigsten Urkundensammlungen und -bearbeitungen Salzburgs waren im Sinn von Besitztitelverzeichnissen bereits in jenen Jahren angelegt worden, als sich Tassilo III. Karl dem Großen