Udo Schnelle

Theologie des Neuen Testaments


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durch Prozesse historischer Sinnbildung angeeignet werden können. Die Personen und die Ereignisse müssen in Beziehung zueinander gesetzt werden, Anfang und Ende eines historischen Verlaufs muss bestimmbar sein. Die Voraussetzungen jeweils gegenwärtigen Erkennens und der jeweilige Quellenbefund gehen von Beginn der historischen Darstellung an eine unlösliche Verbindung ein. Dies gilt für die Evangelisten als Autoren einer Jesus-Christus-Geschichte ebenso wie für Exegeten, die ihre Jesus-Christus-Geschichte schreiben. Die notwendige narrative Präsentation eines Geschehens negiert aber keineswegs die Rationalitätsansprüche der Historiographie, sondern ist ihre Voraussetzung. Jesus von Nazareth kann deshalb nicht anders als in seinen literarischen Kontexten erfasst werden. Die Frage nach Authentizität und Fakten auf der Basis eines kritischen Quellenbefundes bleibt, kann aber nicht hinter oder jenseits der narrativen Präsentation und damit des immer auch fiktionalen Charakters der Jesus-Christus-Geschichte in den uns vorliegenden Evangelien beantwortet werden. Es kann keine Reproduktion von Quellen oder Rekonstruktion vorgegebener historischer Zusammenhänge, keine Rück-Frage nach Jesus geben, sondern nur eine den Verstehensbedingungen und dem Überlieferungsbefund gleichermaßen verpflichtete, methodisch geleitete Konstruktion des Wirkens Jesu23. Deshalb können Jesusdarstellungen nicht länger eine Suche nach der Welt hinter den Texten sein24. Es ist nicht möglich, eine historisch und theologisch verantwortbare Jesuserzählung an den narrativen Darstellungen der Evangelien vorbei zu entwerfen, weil bereits sie die frühesten Zeugnisse einer Figuration des Wirkens Jesu sind.

      Konsequenzen

      Aus diesen Überlegungen ergeben sich mehrere Konsequenzen: 1) Wenn die narrative Präsentation überhaupt erst Geschichte ermöglicht, es ohne Erzählung keine Erinnerung an Jesus geben kann, dann kann zwischen der Erzähl- und der Wortüberlieferung nicht mehr schematisch eine Alternative aufgebaut werden, wonach die Wortüberlieferung Anspruch auf Authentizität besitze, die Erzählüberlieferung hingegen sekundär hinzugetreten sei25. Beide Formen haben zunächst denselben Anspruch auf Authentizität, denn sie überliefern, was als charakteristisch und damit erinnernswert von Jesus erzählt und schließlich aufgezeichnet wurde. Nicht die Gattung, sondern erst die Einzelanalyse kann darüber entscheiden, welches Ereignis oder welches Wort für Jesus in Anspruch genommen werden kann. Die narrativen Kontexte der Wort- und Gleichnisüberlieferung müssen innerhalb der Jesusdarstellung ernst genommen werden. 2) Die Frage nach Jesus kann nicht auf den ‚historischen‘ Jesus als den ‚wirklichen‘ Jesus reduziert werden26, denn wenn uns Jesus nur in seiner narrativen Präsentation und damit in seiner Bedeutsamkeit zugänglich ist, kann nicht einfach zwischen einer ‚rein‘ historischen und einer theologischen Fragestellung unterschieden werden27. Es gibt die historische Frage nach Jesus, nicht aber den ‚historischen‘ Jesus! Weil Jesus von Nazareth niemals jenseits seiner Bedeutung für den Glauben zugänglich war und ist, muss auch für den vorösterlichen Jesus die Frage nach seinem Sendungsbewusstsein und der theologischen Bedeutung seines Wirkens gestellt werden28. 3) Jedes Jesus-Bild muss die unterschiedlichen Wahrnehmungen erklären, die Jesus von Nazareth vor und nach Ostern auslöste und die verschiedenen Anknüpfungen an ihn plausibel machen. Die Geschichte des frühen Christentums zeichnet sich von Anfang an durch eine hohe Anschlussfähigkeit sowohl gegenüber dem hellenistischen Judentum als auch gegenüber dem genuin griechisch-römischen Kulturraum aus. Eine nachhaltige Anschlussfähigkeit ist nicht einfach identisch mit Anpassung, sondern gewinnt ihre Kraft aus dem Ursprungsgeschehen, d.h. die Entstehung der Christologie und die verschiedenen Entwicklungen in der Geschichte des frühen Christentums bis hin zur beschneidungsfreien Völkermission werden aus geschichtstheoretischer Sicht auch Anhaltspunkte im Wirken und in der Verkündigung des Jesus von Nazareth haben. Jesu einzigartiger vorösterlicher Anspruch, eine schon sehr früh ausdifferenzierte Christologie und eine innerhalb der Weltgeschichte singuläre Ausbreitungsgeschichte einer neuen Religion lassen sich nur überzeugend erklären, wenn die Kraft des Anfangs so stark und mannigfaltig war, dass sie eine Vielfältigkeit der Interpretationen aus sich heraussetzen konnte.

      W.G.KÜMMEL, Dreissig Jahre Jesusforschung (1950–1980), BBB 60, Königstein/Bonn 1985, 2–32; K.KERTELGE (Hg.), Rückfrage nach Jesus, Freiburg 21977; F.HAHN, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, in: K.Kertelge (Hg.), Rückfrage nach Jesus, 11–77; E.SCHILLEBEECKX, Jesus (s.o. 3), 70–89; D.LÜHRMANN, Die Frage nach Kriterien für ursprüngliche Jesusworte, in: J.Dupont (Hg.), Jésus aux origenes de la christologie, BEThL XL, Leuven 1989, 59–72; J.SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s.u. 3.6), 8–94; G.THEISSEN/D.WINTER, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung, Fribourg/Göttingen 1997; J.P. MEIER, A Marginal Jew I (s.o. 3), 167–195; ST. PORTER, The Criteria for Authenticity in Historical-Jesus Research, JSNT.S 191, Sheffield 2000; I.BROER, Die Bedeutung der historischen Rückfrage nach Jesus und die Frage nach deren Methodik, in: L.Schenke (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s.o. 3), 19–41; A.SCRIBA, Echtheitskriterien der Jesus-Forschung. Kritische Revision und konstruktiver Neuansatz, Hamburg 2007.

      Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass die Frage nach Jesus von Nazareth hermeneutisch und methodisch hohe Anforderungen stellt. Sie ist nicht ‚hinter‘, sondern in den Texten zu vollziehen; damit aber keineswegs unmöglich, sondern auf der historischen Ebene methodisch reflektiert durchführbar und auf der theologischen Ebene geboten. Jesus von Nazareth war und bleibt der zentrale Bezugspunkt des Glaubens, der auch nach der historischen Vergewisserung seiner selbst fragt, weil er sich wesentlich auf eine historische Gestalt und ein historisches Gesamtgeschehen bezieht. Wie aber soll das konkret aussehen; mit Hilfe welcher Kriterien/Kategorien ist es möglich, aus dem breiten Strom der Überlieferung Worte Jesu herauszufiltern, sie von späteren Interpretationen und Aktualisierungen zu unterscheiden, ohne dabei die oben genannten Grundüberlegungen zu vernachlässigen? Zur Beantwortung dieser Fragen muss zunächst zwischen Basiskriterien und Materialkriterien unterschieden werden.

      Basiskriterien

      Das entscheidende Basiskriterium ist die ‚Gesamtplausibilität‘, wonach eine Rekonstruktion der Verkündigung Jesu sowohl im Kontext des Judentums als auch des entstehenden Christentums plausibel sein muss29. Zur Gesamtplausibilität gehört auch, dass jedes Jesus-Bild mit der Gesamttendenz der synoptischen Evangelien übereinstimmen sollte30. Diese Evangelien sind die Basis-Quellen für Jesus von Nazareth und es kann keine historisch verantwortete Jesusinterpretation an ihnen vorbei oder sie massiv korrigierend geben, weil ein solches Vorgehen als willkürlich anzusehen wäre. Die Evangelisten waren keine eigenmächtigen Konstrukteure, sondern sie dokumentieren, repräsentieren, reflektieren und interpretieren ein geschichtliches Geschehen. Deshalb bilden sie das Fundament und bestimmen zugleich die Grenzen jeder plausiblen Jesus-Darstellung. Die ‚Kontextplausibilität‘ geht davon aus, dass eine Alternative Jesus – Judentum historisch wie theologisch verfehlt ist. Jesus kann nicht vom Judentum abgehoben werden, sondern er muss innerhalb des Judentums, genauer: im Kontext seiner galiläischen Welt verstanden werden. Die Einbindung Jesu in die Sprach- und Handlungsmuster seiner Umwelt schließt zudem eine kritische Stellung Jesu innerhalb des Judentums keineswegs aus, denn das Judentum war zu dieser Zeit keine homogene Einheit, sondern umfasste vielfältige, sich teilweise widersprechende Strömungen.

      Zugleich muss erklärt werden, wie aus der Verkündigung Jesu das frühe Christentum entstehen konnte. Neben der Kontextplausibilität ist die ‚Wirkungsplausibilität‘ das zweite entscheidende Kriterium, denn historisch kann nur ein Jesusbild sein, dass sowohl die Verkündigung Jesu im Rahmen des Judentums seiner Zeit als auch die Entwicklung von Jesus zum Urchristentum verständlich macht31. Die Botschaft Jesu ist in Galiläa entstanden und mit Galiläa verbunden, ohne jedoch auf die sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten Galiläas reduziert werden zu können; sie hat politische Dimensionen, obwohl sie in ihrem Kern nicht politisch ist32. Dies zeigt deutlich die Rezeptionsgeschichte, denn Jesu Verkündigung vom Reich Gottes wurde – abgelöst von seinem konkreten historischen und geographischen Ort – innerhalb sehr kurzer Zeit im gesamtem Mittelmeerraum aufgenommen. Dies war nur möglich, weil Jesu Verkündigung über ihre religiösen und sozial-politischen Inhalte hinaus auch eine ideengeschichtliche Qualität hatte und hat: Der eine Gott, der in neuer und überraschender