Udo Schnelle

Theologie des Neuen Testaments


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Funktion des Sabbats ging in der Geschichte des nachexilischen Judentums teilweise verloren258. Zwar wurde der Sabbat zum Zentrum des Toraverständnisses, zugleich aber verschob sich die Qualifizierung der Zeit zu einem statischen Gegenüber von Sabbat und Mensch. In einigen Bereichen der Sabbathalacha musste sich der Mensch dem Sabbat und seinen Anforderungen unterordnen. So heißt es in CD 11,16f innerhalb einer Sabbathalacha: „Einen lebendigen Menschen, der in ein Wasserloch fällt oder sonst in einen Ort, soll niemand heraufholen mit einer Leiter oder einem Strick oder einem (anderen) Gegenstand“ (vgl. ferner Jub 2,25–33; 50,6ff; CD 10,14–12,22; Philo, VitMos II 22). Jesus durchbricht diese Umkehrungen und demonstriert durch seine Sabbatheilungen die ursprüngliche Bedeutung dieses Tages: Er verhilft zum Leben (vgl. Lk 13,10–17) und ermöglicht dem Menschen, seiner eigentlichen Bestimmung nachzukommen: dem Schöpfer zu begegnen. Auch in Mk 3,4 geht es Jesus um den ursprünglichen Gotteswillen in Bezug auf den Sabbat („Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, ein Leben zu retten oder zu töten?“)259. Der Sabbat soll dem Guten dienen, und dies besteht in der Erhaltung und Rettung des Lebens. Gott will dem Menschen in einem umfassenden Sinn Heil schaffen, und dieser radikalen Hinwendung zu den Menschen ist auch der Sabbat unterzuordnen260. Das Gute zu unterlassen, stellt aus der Sicht Jesu keine neutrale Haltung dar, sondern es bedeutet, das Böse zu tun, zu töten. Gottes Ja zum Menschen, seine Sorge um und für ihn, steht über den Geboten. Eine Auslegung der Gebote Gottes, die das nicht berücksichtigt, verfehlt den Sinn der göttlichen Willenskundgebung. Deshalb kann der Sabbat durch das Tun des Guten nicht entweiht werden.

      Das Zurücktreten des Verzehntungsgebotes (vgl. Lev 27,30) in Mt 23,23a-c weist in dieselbe Richtung: Der Zehnte war speziell für die galiläische Unter- und Mittelschicht eine schwer zu tragende wirtschaftliche Belastung, so dass Jesus hier eine deutlich andere Position einnimmt als die Pharisäer (vgl. Lk 18,12)261.

      Dezentrierung der Tora

      Für die Beurteilung der Stellung Jesu zur Tora sind drei Beobachtungen ausschlaggebend: 1) Die Tora und ihre strittigen Auslegungen sind nicht das Zentrum des Wirkens und der Verkündigung Jesu262. Die neue Wirklichkeit des Kommens Gottes in seinem Reich bestimmt auch sein Verhältnis zur Tora (vgl. Q 16,16); im Auftreten Jesu bricht das wahrhaft Neue an (Mk 2,21f: „Niemand flickt einen neuen Lappen auf ein altes Kleid, sonst reißt das Flickstück heraus, das neue vom alten, und der Riss wird schlimmer. Und niemand füllt einen neuen Wein in alte Schläuche; sonst wird der Wein die Schläuche zerreißen, und der Wein kommt um samt den Schläuchen“). 2) Innerhalb der Stellungnahmen Jesu zur Tora und ihrer Auslegung dürfte die Unterscheidung zwischen einer Toraverschärfung im ethischen Bereich und einer Toraentschärfung bei rituellen Fragen zutreffend sein263. 3) Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Jesus die Tora aufheben oder einer grundsätzlichen Kritik unterziehen wollte. Zugleich muss aber noch einmal unterstrichen werden, dass er nicht von der Tora, sondern vom Reich Gottes her denkt. Weil sich Gottes end- und urzeitlicher Wille entsprechen264, verbinden sich bei Jesus Eschatologie und Protologie und führen zu einer Dezentrierung der Tora. Diese Dezentrierung ist nicht einfach mit einer Ablehnung oder Abschaffung gleichzusetzen, aber für Jesus war die Liebe Gottes in seinem Reich und nicht mehr das Geschenk der Tora die offene Tür, durch die jeder zu Gott kommen konnte. Eine solche Interpretation des Gesetzes bei Jesus verbleibt innerhalb des Judentums, erklärt die Konflikte mit anderen jüdischen Gruppen (vgl. Mk 2,1–3,6; 12,13–17; Lk 7,36–50; 8,9–14; Mt 23,23) und lässt verstehen, warum wahrscheinlich schon sehr früh innerhalb des sich formierenden frühen Christentums Gesetzeskritik mit Berufung auf Jesus formuliert wurde.

      Ein mehrschichtiger Befund zeigt sich auch im Verhältnis Jesu zu Israel und den Heiden. Jesus wusste sich grundsätzlich zu Israel gesandt (vgl. Mk 7,27), er sah sich vom Gott Israels beauftragt, seinem Volk das Gottesreich zu verkünden.

      Der Zwölferkreis

      Sichtbarer Ausdruck dafür ist die Einsetzung des Zwölferkreises. Für die Historizität des Zwölferkreises spricht vor allem, dass die nachösterliche Gemeinde kaum zu der Aussage gekommen wäre, Judas als ein Mitglied des engsten Jüngerkreises habe Jesus verraten (vgl. Mk 14,10.43par), wenn dies nicht geschichtliche Tatsache wäre265. Der Zwölferkreis wird in der vorpaulinischen Tradition 1Kor 15,5 genannt, wonach Christus „dem Kephas erschien, dann den Zwölfen.“ Die ‚Zwölf‘ sind hier eine feste Institution, obwohl Judas nicht mehr dazugehört und Petrus eigens erwähnt wird. Außerdem hat der Zwölferkreis nachösterlich keine erkennbare geschichtliche Rolle mehr gespielt; viel wichtiger werden die durch eine Erscheinung des Auferstandenen berufenen Apostel; erst in späterer Zeit, bei Markus, Matthäus und Lukas und in der Johannesoffenbarung findet sich die Identifizierung der Zwölf mit den Aposteln. Der Zwölferkreis dürfte in die vorösterliche Zeit zurückreichen und seine Bedeutung erschließt sich vor allem aus Q 22,28.30: „Ihr, die ihr mir gefolgt seid, werdet auf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.“ Der Zwölferkreis hatte offenbar die Funktion, das Zwölfstämmevolk Israel zu repräsentieren. Wiederum verbinden sich bei Jesus Proto- und Eschatologie, denn das Volk Israel zur Zeit Jesu war nicht das Zwölfstämmevolk, d.h. der Zwölferkreis repräsentierte das ganze Volk Israel in seiner ursprünglichen und zugleich eschatologischen Gestalt. Der Zwölferkreis ist als Vorwegnahme der eschatologischen Ganzheit Israels zu verstehen, gleichsam in Analogie zum Gottesreich, das in Jesus jetzt schon verborgen anfängt. Der Zwölferkreis entspricht somit dem Gegenwartsaspekt des Gottesreichs, er signalisiert bereits den Anfang der von Gott zu schaffenden Ganzheit Israels. In diesem Sinn kann man sagen: Jesu Perspektive war das eschatologische Israel und er verstand seine Sendung als Auftakt zu seiner Neuschöpfung durch Gott.

      Israel und die Heiden

      Inhaltlich steckt in Jesu Auslegung des Anfangs des Gottesreiches als schrankenloser Liebe Gottes gerade zu den Benachteiligten und Deklassierten auch die Tendenz, die Grenzen Israels auszuweiten. Menschen, die aus jüdischer Perspektive gesehen Randfiguren Israels sind, werden integriert. So wird der Zöllner Zachäus auch als ein Sohn Abrahams bezeichnet (Lk 19,9) und die Samaritaner werden von Jesus mit den Juden gleichgestellt (vgl. Lk 10,30ff)266. Ein Zeichen für Jesu Offenheit sind auch die gelegentlichen positiven Kontakte mit Heiden: Die Überlieferungen vom Hauptmann von Kapernaum und von der syrophönizischen Frau (Mt 8,5–10.13; Mk 7,24–30) haben einen authentischen Kern267 und bezeugen eine punktuelle Offenheit Jesu gegenüber Heiden. Sie zeigt sich auch in der Parabel vom Gastmahl (Lk 14,16–24) und in dem prophetischen Drohwort Q 13,29.28. Die Parabel vom Gastmahl illustriert, dass Gott seinen Heilswillen in unerwarteter Weise vollziehen kann, denn die ursprünglich Geladenen werden nicht am großen Fest teilnehmen. In ähnlicher Weise greift Jesus das Motiv der Völkerwallfahrt268 auf, es dient gerade nicht zur Bestätigung der Verheißungen an Israel, sondern die Reihenfolge kehrt sich um. Das Motiv des endzeitlichen Gottesvolkes wurde im antiken Judentum im Wesentlichen in zweifacher Weise thematisiert: Die Erweiterung des Gottesvolkes konnte für die Endzeit erwartet werden, wenn die Völker nach Jerusalem/zum Zion strömen, um den wahren Gott anzubeten (vgl. äthHen 90; TestXII). Auf der anderen Seite gab es starke Strömungen, die eine strikte Abgrenzung bis hin zur Bekämpfung der Heiden forderten (Qumran, PsSal)269. Auffallend ist nun, dass Jesus das erste Motiv umkehrt und das zweite gar nicht erwähnt. In der jüdischen Überlieferung ist die Opposition Israels gegen die Heiden fest mit dem Gedanken der Gottesherrschaft verbunden, so dass Jesus diese Vorstellung bekannt gewesen sein muss. Anders als z.B. die Zeloten thematisiert er sie aber nicht, denn er sah in der politischen und ökonomischen Notlage seines Volkes, die er nach dem Zeugnis der Seligpreisungen keineswegs übersehen hat, nur die Außenseite eines viel tiefer gehenden Problems. Wie Johannes der Täufer dürfte Jesus von der Prämisse ausgegangen sein, dass Israel, so wie es sich vorfindet, vom Gericht Gottes bedroht ist und von sich aus kein Anrecht mehr besitzt, frühere Heilszusagen Gottes für sich in Anspruch zu nehmen (vgl. Mt 3,7–10; Lk 13,3.5). Jesus nahm diesen Gedanken offensichtlich so ernst, dass er es vermied, mit Hilfe der traditionellen Opposition von Israel und Heiden ein Heilsrecht Israels vorzuschreiben und das eschatologische Heil einfach als Befreiung aus der Knechtschaft der Heiden zu beschreiben. Er legt die Gegenwart des Heils als Besiegung des Satans aus, der