Udo Schnelle

Theologie des Neuen Testaments


Скачать книгу

war es für ihn sinnlos, in herkömmlicher Weise von den Heiden als den Opponenten der Gottesherrschaft zu sprechen. Wenn Jesus am Gedanken der Wiederherstellung der politischen Selbständigkeit des Volkes Israel völlig uninteressiert war, dann zeigt sich darin nicht ein Desinteresse an politischen Fragen überhaupt, wohl aber ein bestimmtes Israelverständnis: Die Wiederherstellung der politischen Souveränität des Volkes und des davidischen Königtums als politische und vor allem religiöse Frage entsprach nicht seiner Sicht des endzeitlichen Handelns Gottes. Dem entspricht wiederum, dass Jesus sich für die Rechtsordnung seines Volkes nur wenig interessierte.

      In diesem Kontext ist es wiederum bemerkenswert, welche weiteren Themen jüdischen Selbstverständnisses Jesus nicht aufgreift. Er spricht nicht von der Erwählung Israels, beruft sich nie auf das Verdienst der Patriarchen und thematisiert auch nicht die Exodus- und Landtradition. Zumindest gegenüber dem aktuellen Tempelkult in Jerusalem, wenn nicht sogar gegenüber dem Tempelkult überhaupt, war Jesus sehr kritisch eingestellt (s.u. 3.10.2). Man kann sagen: Obwohl Jesus sich zum Volk Israel gesandt wusste, ist für ihn die theologische Beschäftigung mit dem geschichtlichen Grund der Erwählung Israels und ihrer Verwirklichung in Politik und Recht der Gegenwart kein Thema. Die punktuelle Offenheit gegenüber Heiden, die Umkehrung eschatologischer Erwartungen und die Distanz zu Grundüberzeugungen des antiken Judentums ändern nichts daran, dass Jesus sich grundsätzlich an Israel gesandt wusste. Er war aber zweifellos ein besonderer Jude mit einem außergewöhnlichen Anspruch, einer überraschenden Offenheit und einer neuen Sicht des gegenwärtigen und zukünftigen Handelns Gottes an den Menschen270. Jesus strebte nicht eine Erneuerung, sondern eine Neuausrichtung der jüdischen Religion an. Zwar kann sich die spätere Heidenmission des frühen Christentums nicht direkt auf Jesus berufen, aber sie entspricht dem jesuanischen Gedanken der schrankenlosen Liebe Gottes, verlängert und vertieft ihn auf eine Weise, die starke Impulse Jesu aufnimmt und zugleich über ihn weit hinausgeht.

      Die Bindung der Gottesherrschaft an seine Person, die Praxis der Sündenvergebung, die Wunder, der in den Antithesen erhobene Anspruch und die Unheilsbotschaft verdeutlichen jenseits exegetischer Einzelurteile den einzigartigen Anspruch Jesu. Wenn hier „mehr ist als Salomo/mehr als Jona“ (vgl. Q 11,31f) und die Augenzeugen selig gepriesen werden (vgl. Q 10,23f), dann stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis Jesu. Sie kann nur beantwortet werden, wenn die Jesusüberlieferung mit den drei Haupttypen messianischer Erwartung des antiken Judentums konfrontiert wird271: der Erwartung eines endzeitlichen Propheten, der Erwartung eines himmlischen Menschensohnes und der Erwartung eines religiös-politischen Messias272.

      F.HAHN, Christologische Hoheitstitel (s.u. 4), 351–404; F.SCHNIDER, Jesus der Prophet, OBO 2, Fribourg/Göttingen 1973; U.B.MÜLLER, Vision und Botschaft. Erwägungen zur prophetischen Struktur der Verkündigung Jesu, in: ders., Christologie und Apokalyptik, ABG 12, Leipzig 2003 (= 1977), 11–41; M.TRAUTMANN, Zeichenhafte Handlungen Jesu, Würzburg 1980; M.E. BORING, The Continuing Voice of Jesus, Louisville 1991; G.VERMES, Jesus der Jude (s.o. 3), 73–88; N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 145–319; M. ÖHLER, Jesus as Prophet: Remarks on Terminology, in: M.Labahn/A.Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, Sheffield 2001, 125–142; J.D.G. DUNN, Jesus Remembered (s.o. 3), 655–666.

      Ebenso wie Johannes d. T. (vgl. Mk 11,32; Mt 14,4; Lk 1,76) wurde Jesus von Nazareth als Prophet wahrgenommen (vgl. Lk 7,16: „Und Furcht ergriff alle und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns auferstanden und Gott hat sein Volk besucht“). Der Einfluss der Elia-Tradition (vgl. Mal 3,23) ist besonders in Mk 6,15f („Einige sprachen: Er ist Elia, andere: Er ist Prophet, einer von den Propheten“) und Mk 8,27f („Für wen halten mich die Leute? … Für Johannes den Täufer, andere für Elia, wieder andere für einen der Propheten“) greifbar. Eine gemeinantike Volksweisheit273 wird Jesus in Mk 6,4 in den Mund gelegt: Ein Prophet gilt nichts in seinem Vaterland. In Lk 7,39 heißt es: „Wenn dieser ein Prophet ist, würde er erkennen, wer und was für eine Frau sie ist, die ihn berührt, denn sie ist eine Sünderin.“ Prophetische Beglaubigungszeichen (vgl. Mk 8,11; Mt 12,38f; Lk 11,16.30) werden von Jesus verlangt und in Mk 14,65 wird er verspottet, indem man ihm den Kopf verhüllt, ihn schlägt und ihn auffordert: Prophezeie, wer dich geschlagen hat.

      Ob Jesus sich im Anschluss an Jes 61,1 als eschatologischer Prophet verstand (vgl. Q 7,22), lässt sich nicht mehr entscheiden. Auf jeden Fall bediente er sich prophetischer Redeformen (vgl. die Drohworte Q 10,13–15; 11,31f), er hatte Visionen (Lk 10,18) und nahm wie die atl. Propheten Symbolhandlungen vor (Jüngerberufungen, Mahlzeiten mit rituell Unreinen, Austreibung der Händler und Wechsler aus dem Tempel, das letzte Mahl mit den Jüngern und in einem weiteren Sinn auch Jesu Wunder). Wie bei vielen atl. Propheten lässt sich bei Jesus eine tiefe Identität von Leben und Botschaft entdecken: Das Leben des Propheten steht ganz im Dienste seiner Botschaft und wird zu ihrem Ausdruck. Auch religionsgeschichtliche Parallelen wie die jüdischen Zeichenpropheten (s.o. 3.6.1) und die Erwartung eines eschatologischen Propheten wie Mose (Dtn 18,15.18) in Qumran (vgl. 1QS IX 9–11; 4Q175)274 lassen es möglich erscheinen, dass Jesus sich als endzeitlicher Prophet verstand.

      Andererseits lehnt Jesus die Kategorie des Prophetischen in zwei Logien als unzureichend ab (Q 11,32: „mehr als Jona ist hier“; Lk 16,16: „das Gesetz und die Propheten reichen bis Johannes“, danach kommt etwas Neues) und es gibt kein (relativ unumstrittenes) authentisches Wort, in dem Jesus sich ausdrücklich als Prophet bezeichnet, zumal die atl. Botenkategorie seinem Anspruch in keiner Weise gerecht wird. Auch die Anklänge in Mk 9,7 auf Dtn 18,15 können nicht für Jesus in Anspruch genommen werden, sondern verdanken sich markinischer Christologie (s.u. 8.2.2). Fazit: Jesu Selbstverständnis, Verkündigung und Verhalten sprengen die Dimension des Prophetischen275.

      PH.VIELHAUER, Gottesreich und Menschensohn in der Verkündigung Jesu, in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament, TB 31, München 1965, 55–91; H.E. TÖDT, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 51984; F.HAHN, Christologische Hoheitstitel (s.o. 4), 13–53; J.JEREMIAS, Die älteste Schicht der Menschensohnlogien, ZNW 58 (1967) 159–172; C.COLPE, Art. ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου, ThWNT 8, Stuttgart 1969, 403–481; L.GOPPELT, Theologie I, 116–253; A.J.B. HIGGINS, The Son of Man in the Teaching of Jesus, MSSNTS 39, Cambridge 1980; H.MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s.o. 3.4), 152–164; M.MÜLLER, Der Ausdruck Menschensohn in den Evangelien, AThD 17, Leiden 1984; V.HAMPEL, Menschensohn und historischer Jesus, Neukirchen 1990; J.J. COLLINS, The Son of Man in First-Century Judaism, NTS 38 (1992) 448–466; P.STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 107–125; G.VERMES, Jesus der Jude (s.o. 3), 144–174; A.VÖGTLE, Die ‚Gretchenfrage‘ des Menschensohnproblems, Freiburg 1994; G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 470–480; J.BECKER, Jesus von Nazaret (s.o. 3), 249–275; M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament (s.u. 4), 287–306; M.KREPLIN, Das Selbstverständnis Jesu, WUNT 2.141, Tübingen 2001, 88–133; C.M. TUCKETT, The Son of Man and Daniel 7: Q and Jesus, in: A.Lindemann, (Hg.), The sayings source Q and the historical Jesus (s.u. 8.1), 371–394; U.WILCKENS, Theologie II, 28–53.

      Die häufigste Selbstbezeichnung Jesu ist ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου („der Sohn des Menschen“)276, sie findet sich in doppelt determinierter Form 82mal im Neuen Testament (Mk: 14mal; Mt: 30mal; Lk 25mal; Joh 13mal)277 und mit Ausnahme von Joh 12,34 in den Evangelien immer im Mund Jesu278. Diese Wendung ist eine für griechische Ohren sehr ungewöhnliche Übersetzung des aramäischen image bzw. des hebräischen image, die einen vornehmlich generischen Sinn aufweisen279: der Mensch als Angehöriger/ein Mensch als Repräsentant des Menschengeschlechtes. Die Bedeutung dieser Wendung