Man kann nämlich nicht einfach von Buchstabenformen in datierten Inschriften auf die Abfassungszeit von Pergamenten mit ähnlichen Buchstabenformen schließen. Schriften auf unterschiedlichem Material oder mit unterschiedlichem Register haben jeweils ihre eigenen Anforderungen und können sich unterschiedlich entwickeln.
Schließlich stellt man innerhalb einer Gruppe eine typologische Reihe der Buchstabenformen auf, die die Genese am besten erklären kann. Man kann sich dabei nicht auf einzelne Buchstaben stützen, sondern muss das gesamte Alphabet genau untersuchen und möglichst alle Formen als Entwicklung aus der Vorform und als Vorform für den Nachfolger erklären können.
Für die Klassifizierung judäischer Schriften benutzen quasi alle Paläographen das in den fünfziger Jahren von Frank CrossFrank Cross entwickelte paläographisches ModellModell, das von Yardeni meisterhaft auch auf die kursiven Schriften übertragen wurde. Cross unterscheidet einerseits chronologisch zwischen protojüdischen (ca. 250–150 v. Chr.), hasmonäischen (150–30 v. Chr.), heriodianischen (ca. 30 v. Chr. – 70 n. Chr.) und post-herodianischen Typen und andererseits zwischen kursiven, semikursiven, semiformellen und formellen Schriftgattungen. Die chronologischen Hauptphasen werden dann noch einmal in früh, mittel und spät unterteilt, so dass man den Eindruck gewinnt, in Zeiträume von 25–30 Jahren datieren zu können. Das ist jedoch übertrieben. Vergleiche mit den Resultaten der Radiokarbondatierung haben tatsächlich die ungefähre Übereinstimmung mit Cross allgemeiner Anordnung der Entwicklungsphasen ergeben (also dass hasmonäische Rollen durchschnittlich älter sind als Fragmente in herodianischer Schrift), allerdings mit teilweise weit auseinanderliegenden Angaben für Einzelrollen.
|40|Abb. 4:
Paläographie 1
Abb. 5:
Paläographie 2
|42|Ein Problem mit einer fast ausschließlich aus typologischen Vergleichen konstruierten Reihe ist, dass sich die einzelnen Etappen nicht (oder nur schlecht) absolut datieren lassen, sondern nur |43|relativ. Man weiß also nicht wirklich, ob der frühherodianisch genannte Schrifttyp zeitlich näher am späthasmonäischen oder am mittelherodianischen Schrifttyp liegt. Klassische Papyrologen und Mediävisten halten die für Qumranrollen vertretenen Datierungszeiträume von nur einem Vierteljahrhundert zu Recht für übertrieben optimistisch. Auch wenn es leider nicht immer geschieht, sollte man aus Vorsicht die Zeitabschnitte von 25 Jahren immer noch um ca. 25 Jahre in beide Richtungen verlängern, da ein Schreiber lange leben kann. Datierungen sind mit großer Vorsicht zu genießen. Trotzdem ist paläographische Datierung meist präziser als Radiokarbon (s. Kasten).
Schon in den ersten Jahren spielte die Physik eine große Rolle in der Qumranforschung, als die frisch entwickelte RadiokarbonRadiokarbon- oder Kohlenstoffisotopenanalyse (14C14C) an Tüchern aus Höhle 1 ausprobiert wurde (Jull u.a.). Seitdem wird diese Analyse auf zahlreiche historische Objekte mit organischen Bestandteilen angewendet. Das Prinzip beruht darauf, dass Kohlenstoff aus unterschiedlichen Isotopen besteht, von denen das sogenannte 14C radioaktiv ist und mit einer konstanten Halbwertszeit allmählich zerfällt, während 12C stabil bleibt. Alle Lebewesen nehmen über ihren Stoffwechsel, vor allem aus der Luft, Kohlenstoff auf, sowohl 12C als auch 14C. Wenn sie sterben, hört die Kohlenstoffaufnahme abrupt auf. Wenn man die Proportion des stabilen 12C zu dem noch nicht zerfallenen 14C misst und berechnet, wie viel 14C eigentlich hätte vorhanden sein müssen, kann man ungefähr den Zeitpunkt bestimmen, an dem die Kohlenstoffaufnahme abbrach. Die Proportion von 12C zu 14C in der Luft ist allerdings nicht ganz konstant. Es sind daher sogenannte Kalibrationskurven nötig, um diesen Faktor in die Berechnung mit einzubeziehen (Doudna).
Als Resultat werden meistens zwei Zeiträume angegeben, von denen der kürzere mit etwa 68 %iger Wahrscheinlichkeit σ1 („Sigma 1“) das Jahr enthält, der verlässlichere ist jedoch der wesentlich längere σ2 („Sigma 2“)-Zeitraum mit etwa 95 %iger Wahrscheinlichkeit. Die Genauigkeit nimmt mit größerem Alter ab. Für 2000 Jah re alte Objekte ist der Zeitraum für eine Präzision von σ1 etwa 100 Jahre lang, für σ2 hingegen oft 200 Jahre und mehr, also viel länger als paläographische Analyseresultate. Viele Forscher verwenden in erster Linie σ1-Zeiträume, weil die σ2-Zeiträume ihnen im Vergleich zur Paläographie zu lang vorkommen, doch sind Wahrscheinlichkeiten von 68 % für historische Analysen viel zu niedrig! Man sollte daher grundsätzlich nur σ2-Zeiträume in Betracht ziehen. Darüber hinaus ist, anders etwa als bei regulären Glockenkurven, wo die mittleren Werte häufiger vorkommen als die Randwerte, bei 14C jedes Jahr gleich wahrscheinlich.
Es ist relativ leicht, 14C-Ergebnisse durch Auftragen von sehr alten oder sehr jungen kohlenstoffhaltigen Flüssigkeiten in die eine oder andere Richtung zu verfälschen. Zum Beispiel trugen die Mitarbeiter der Scrollery in den ersten Jahren auf Stellen mit verdunkeltem Pergament Rizinusöl auf, das für eine gewisse Zeit den Kontrast erhöhte und das Fragment lesbar machte. Dies hatte allerdings den Preis, dass dieses Fragment überall dort, wo Rizinusöl aufgetragen worden war, bei einem Test zu „junge“ 14C-Proportionen aufweisen würde. Falls sie aus Erdöl produzierte Mittel verwendet hätten, würde der gegenteilige Effekt eintreten.
Der 14C-Test misst nur das Endjahr der Kohlenstoffaufnahme für das Lebewesen, aus dem das Objekt gemacht wurde, gibt uns also eigentlich nur einen terminus a quo. Theoretisch ist es möglich, dass eine Schriftrolle lange aufbewahrt wurde, bevor sie beschrieben wurde. Manchmal wurden alte Objekte aus Holz wiederverwendet. Strydonck beschreibt auf luzide Weise Vorteile und Grenzen der Kohlenstoffdatierung.
Sehr kurz zusammengefasst kann man die Entwicklung von der aramäischen Kanzleischrift zur Quadratschrift des zweiten Jahrhunderts n. Chr. mit einigen grundlegende Beobachtungengrundlegenden Beobachtungen folgendermaßen beschreiben: Die anfänglich sehr ungleich großen Buchstabenkörper werden mit der Zeit immer homogener, so dass man schließlich zusätzlich zur Linie, an der die Buchstaben hängen, auch eine Linie, auf der die meisten Buchstaben sitzen, zeichnen kann. Außerdem werden viele Buchstaben etwa gleich breit wie hoch (→ Quadratschrift). Schluss-Mems und Samekhs sind in den älteren Schriften noch offen, später geschlossen. Die durchgehende und korrekte Verwendung von diffenzierten Medialformen und Endformen einiger Buchstaben nimmt zu, desgleichen auch die Zahl der Zierhaken (keraia) an den oberen Enden bestimmter Buchstaben mit den herodianischen Schriften.
In Qumran sind außer der judäischen Schrift noch sechs andere Schriften bezeugt: Die Forscher waren überrascht, einige Texte in Paläohebräisch vorzufinden, denn eigentlich dachte man, diese Schrift wäre nur noch auf Münzen und Siegeln verwendet worden. Dazu gibt es drei verschiedene sogenannte kryptische Alphabete (Geheimschriften) für Hebräisch. Alle griechischen Texte aus Qumran wurden mit griechischen Buchstaben geschrieben. Und schließlich finden sich ausnahmsweise auch Texte in Nabatäisch. Für die Datierung des Paläohebräischen dieser Periode und für die der kryptischen Alphabete ist die Paläographie bislang unzuverlässig.
Abb. 6:
Entwicklung des Samekh
|44|paläohebräischPaläohebräisch ist für die hellenistisch-römische Zeit eigentlich eine Fehlbezeichnung, handelt es sich doch um eine Wiederbelebung eines veralteten Alphabets. Eigentlich entspricht „neo-paläohebräisch“ dem Sachverhalt besser, jedenfalls, wenn die Annahme richtig ist, dass paläohebräisch in persischer und hellenistischer Zeit nur noch für Namen auf Siegeln und für die Inschriften auf Münzen benutzt wurde. Von den Texten vom Toten Meer gibt es fünfzehn, die vollständig in paläohebräischer Schrift geschrieben sind (McLean). Fast alles sind biblische Handschriften. Dazu kommen zahlreiche Rollen in judäischer Schrift, in denen nur das Tetragramm oder die Bezeichnungen für Gott in paläohebräischen Buchstaben eingesetzt worden sind. Dies zeigt also, dass paläohebräische Schrift mit besonderer Heiligkeit verbunden war. Von griechischen Bibelpapyri aus