Daniel Stökl Ben Ezra

Qumran


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Schriftrollen aus dieser Zeit. Einiges konnte man im rabbinischen Traktat Sopherim und aus dem Talmud lernen (doch sind diese viel jünger), anderes aus den griechischen Papyri aus Ägypten übertragen (doch gab es dort kaum Pergamente). Heute, nach Vollendung der Arbeit und dank der hervorragenden Studie von Emanuel Tov haben wir es leichter. Gutes Verständnis der hier nur sehr skizzenhaft erwähnten Grundlagen der Buchkunde der Rollen vom Toten Meer ist unabdinglich dafür, Fallstricke der Arbeit an höchst fragmentarischen Texten zu umgehen.

      Eine ParabelParabel, um die unvorstellbare Schwierigkeit der Edition der Qumranrollen greifbar zu machen: eine Prinzessin schenkt ihrem Verehrer 1000 Puzzles (die 1000 Schriftrollen). Jedes Puzzle hat zwischen zehn und 10000 Teile (die Fragmente). Einige Puzzles zeigen das gleiche Bild wie ein anderes, aber nicht das gleiche Format oder nicht die gleiche Pappe (verschiedene Manuskripte der gleichen Komposition). Sie schüttet jedes vollständige Puzzle in eines von elf großen Fässern (die elf Höhlen), allein in Fass 4 sind zwei Drittel aller Puzzles. Dann wirbelt sie die Puzzleteile in jedem Fass durcheinander. Schließlich wirft sie 95 % der Puzzleteile aus jedem Fass weg (Verlust durch Ratten, Insekten, Feuchtigkeit, Wind und Plünderer)! In Fass 4 bleiben so fünfzehntausend Puzzleteile von ca. 600 Puzzles. Nun verlangt sie von ihrem Verehrer, ihr zu sagen, welche Teile einmal zu welchem Puzzle gehört haben und was auf den Puzzles für Motive und Details dargestellt waren.

      |29|2.1 Buchform und Layout (Kodikologie)

      Für Texte ein überzeugendes Layout zu erstellen ist eine hohe Kunst und beeinflusst nachhaltig unsere Rezeption des Inhaltes. Eine schön gesetzte Buchseite und ein gekritzeltes Notizblatt mögen exakt dieselben Worte enthalten, doch die Präsentationsform entscheidet, wie wir sie aufnehmen. In einer textorientierten Gesellschaft hat jeder Text „sein“ Format. Ein wissenschaftliches Buch sieht anders aus als ein Roman, eine Bedienungsanleitung ist anders aufgebaut als ein Comic.

      Seit der Spätantike werden Bücher als Kodex veröffentlicht. Das wissenschaftliche Studium der Buchformen heißt Kodikologie. Vor der allmählichen Verbreitung des Kodex ab dem zweiten Jahrhundert n. Chr. war die klassische Buchform der Antike überall die Schriftrolle, lat. volumen (Johnson), so auch in Qumran. Daneben gab es für sehr kurze Texte noch das Einzelblatt. Dies ist jedoch selten (z.B. 4Q175).

      Eine RolleRolle besteht aus einem oder mehreren Bögen aus Papyrus, Pergament oder Leder. Anstelle von Seiten wie in einem Kodex muss der Text einer Rolle in Spalten oder Kolumnen (engl. columns) aufgeteilt werden. Zunächst berechnet der Schreiber daher, wie viel Bögen (engl. sheets) er benötigen wird, und kauft die entsprechende Menge präparierten Beschreibmaterials. Dann markiert er Kolumnen, so dass Kolumnen und Zwischenraum möglichst gleichmäßig breit sind und das Auge die Textblöcke gut trennen kann. Bei Pergamentrollen werden zumeist auch die Zeilen mit einem scharfen Knochen o.ä. in den Beschreibstoff eingeritzt (s. KhQ 2393 in DJD 6, 25). Oft sind Bruchkanten von Fragmenten an exakt diesen Linien! Bei Papyrusrollen ist dieser Arbeitsgang nicht nötig, denn die Fasern auf der meist verwendeten Vorderseite (recto) verlaufen in Schreibrichtung. Als dritter Schritt wird die Rolle beschrieben. Zuletzt werden die Bögen miteinander verklebt (Papyrus) oder mit Flachs oder Sehnen vernäht (Pergament). Manchmal geschieht dies auch schon vor der Beschreibung.

      Das FormatFormat steht in engem Verhältnis zur Textmenge, zur Qualität und zum Sitz im Leben. Lange Texte benötigen großformatigere und längere Rolle als kurze. Wertvolle Texte haben einen breiteren Rand und engere Spalten. Desweiteren hängt die Höhe stark von der Länge ab. Damit die Rolle eine Rolle bleibt, durfte sie nach dem Aufrollen nicht zu dick im Verhältnis zu ihrer Höhe sein. Aber auch für die Handlichkeit war es wichtig, die Proportionen zu wahren. Liturgische Rollen waren weniger hoch (Tov 90).

      Oben und unten wird Freiraum gelassen, die sogenannten MargenMargen, da hier die größten Chancen bestehen, dass die Rolle beschädigt |30|wird und Text verloren geht. Aus dem gleichen Grund haben Rollen oft vorne und hinten eine oder mehrere unbeschriebene Spalten als eine Art Schutzumschlag, das Protokoll und das Eschatokoll. An das Eschatokoll kann ein Stab (griech. omphalos, lat. umbilicus) befestigt werden, um die Rolle leichter unbeschädigt eng rollen zu können. In Qumran sind davon nur zwei gefunden worden. Wahrscheinlich hatten viele Rollen keinen fest verbundenen Stab.

      Ähnlich wie bei modernen Puzzles spielen die Randstücke bei der Rekonstruktion eine große Rolle, da man aus ihnen oft die Breite oder Höhe einer Spalte oder die Position eines Fragments auf der ursprünglichen Rolle berechnen kann. Wenn man wiederum die Höhe einer Rolle kennt, kann dies Schlüsse über den möglichen Umfang der Rolle erlauben, denn Höhe und Länge einer Rolle stehen wie gesagt in gewissen Proportionen zueinander.

      Wenn wir also nur noch das Anfangsblatt einer Rolle mit geringer Höhe und nur jeweils acht bis neun Zeilen Text in einer Spalte finden, können wir daraus schließen, dass sie wohl zu klein war, um z.B. das ganze Buch Genesis enthalten zu haben. Findet man ein Fragment mit Nahtresten, weiß man, dass diese Rolle aus mindestens zwei Pergamentbögen bestand, usw.

      Gegenüber Kodizes haben Rollen den Nachteil, dass man Stellen nicht einfach aufschlagen kann, sondern suchen muss, wie man es noch heute in Synagogen erleben kann. Auch muss man den Text nach der Lektüre wieder zurückrollen (ähnlich wie man es früher mit Videokassetten oder Mikrofilmen machen musste). Der Anfang des Textes sollte außen stehen, das Ende innen. Durch nur einseitige Beschriftung wird bei Rollen die Hälfte des Schreibmaterials verschwendet. Dafür scheint nie Text von hinten durch.

      Für die Lektüre einer Rolle benötigt man zwei Hände, um den gelesenen und den noch zu lesenden Teil zu trennen. Hingegen ist die Berechnung der benötigten Bogenzahl einfacher als bei einem Kodex, da man bei Bedarf ein weiteres Blatt ankleben kann. Es ist nicht möglich, ein Blatt aus der Mitte einer Rolle herauszureißen, ohne dabei die Rolle zu zerteilen. Aber wenn man will oder dies wegen eines beschädigten Blattes nötig ist, kann man leichter als bei einem Kodex ein Blatt ausschneiden, ein anderes einsetzen und die Enden wieder zusammenfügen. So ein Reparaturblatt ist z.B. in der Tempelrolle eingesetzt worden (11QTa I–V). Auch eingerissene Stellen können genäht werden (z.B. 1QIsaa XII oder XVI). Manchmal wurden beschädigte Stellen auch mit einem Flicken geflickt (z.B. 11QTa XXIII–XXIV).

      Pergamentrollen können mit einem Lederriemen zusammengebunden werden, damit sie sich nicht von alleine ausrollen. Dieser kann fest am Protokoll angenäht sein (wie bei 4Q448 zu sehen).

      

|31|Abb. 1:

      4Q448 mit Verschluss

      

Abb. 2:

      Rekonstruktion einer Schriftrolle

      |32|Festes Zusammenrollen schützt die Rolle vor Schäden. Für längere Verwahrung konnten Rollen in Tücher eingehüllt werden und in Holzkästen (capsa) oder in Krüge gelegt werden, wie das Zitat von Jeremia 32,14 oben, S. 10 belegt. Zedernöl war ein zusätzlicher Schutz vor Nagern und Insekten.

      In antiken BibliothekenBibliotheken wurden Rollen wie heute Weinflaschen in ein paar Lagen übereinandergelegt. Anzeichen für derartige Regale sehen viele in den in regelmäßiger Höhe angebrachten Löchern in Höhle 4. Wie konnte man die gewünschte Rolle finden? Dazu waren in griechischen Bibliotheken an der Seite der Rolle mit einer Schnur Etiketten mit Angaben zum Inhalt des Buches angehängt. In Qumran haben wir dafür allerdings gar keine Belege. In fünf Fällen ist der Titel einer Rolle quer auf ihre Rückseite geschrieben, so dass man, ohne die Rolle öffnen zu müssen, erkennen kann, was sie enthält (z.B. 1QS, 4Q249). In den meisten Fällen scheint dies aber nicht der Fall gewesen zu sein. Wir wissen also nicht, wie die jeweilige Rolle lokalisiert werden konnte.

      Unterschiedliche Materialien dienen zum Schreiben. Man unterscheidet zwischen SchreibgerätSchreibgerät (z.B. Calamus, Feder, Finger, Meißel, Stein), BeschreibstoffBeschreibstoff (z.B. Leder, Pergament, Papyrus, Stein, Metall, gebrannte und ungebrannte Keramik, Holz, Palmblätter, Knochen, Wachstafeln) und SchreibstoffSchreibstoff