Stefan Hartmann

Deutsche Sprachgeschichte


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häufiger Bier als Schwaben ist eine wissenschaftliche Hypothese, denn hier haben wir ein klares Vergleichskriterium. Gleiches gilt für die dritte Hypothese, Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, bei einem Haushaltsunfall zu sterben. Diese Hypothese könnte man z.B. überprüfen, indem man Daten von tödlichen Haushaltsunfällen erhebt und die Altersverteilung der Todesopfer mit der Altersverteilung in der Gesamtbevölkerung vergleicht. Die vierte Hypothese ist ein schwierigerer Fall: Sie wäre potentiell falsifizierbar, allerdings müsste man dafür ein Kind ohne Sprache aufwachsen lassen. Aus offensichtlichen Gründen erachtet man ein solches Experiment heute als unethisch und überlässt es ägyptischen Pharaonen und mittelalterlichen Herrschern (vgl. Cohen 2013 für Beispiele). Ob es sich dennoch um eine wissenschaftliche Hypothese handelt, auch wenn sie nur in der Theorie falsifizierbar ist, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Da man solche Fragestellungen heute prinzipiell auch ohne Versuche an echten Menschen z.B. über sog. agentenbasierte computationale Modellierung (agent-based modelling) indirekt angehen kann, spricht im Grunde nichts dagegen, die Hypothese zumindest formal als wissenschaftliche Hypothese durchgehen zu lassen – inhaltlich ist sie natürlich offensichtlich unsinnig.

      Das führt uns zu der Frage, was eigentlich eine gute wissenschaftliche Hypothese ausmacht. Eine Hypothese speist sich meist aus einer Theorie, also einem Netzwerk an erklärenden Annahmen (vgl. Bartz & Döring 2006: 15). Bisweilen werden die Begriffe Theorie und Hypothese nahezu austauschbar gebraucht, allerdings ist die Unterscheidung zwischen einem übergreifenden Netzwerk an erklärenden Annahmen und einer konkreten, falsifizierbaren Einzelannahme nicht ganz unwichtig; darauf werden wir in einem Exkurs in Kap. 4.1.2 zurückkommen. Eine gute Theorie wiederum ist nach Hussy & Jain (2002: 278f.)

       logisch konsistent, also in sich widerspruchsfrei;

       gut überprüfbar bzw. falsifizierbar;

       einfach: sie sollte mit möglichst wenigen Annahmen möglichst viel erklären;

       allgemein: eine Theorie mit größerem Geltungsbereich ist einer Theorie mit geringerem Geltungsbereich vorzuziehen.

      Eng mit dem Kriterium der Einfachheit verbunden ist das Prinzip, das als Occam’s razorOccam’s razor (deutsch auch manchmal: Ockhams RasiermesserOckhams RasiermesserOccam’s razor) bekannt ist und das häufig in der Formel zusammengefasst wird: Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem, also frei paraphrasiert: Die Zahl der Einheiten, die zur Erklärung eines Sachverhalts herangezogen werden, soll nicht ohne Not erhöht werden. Mit anderen Worten: Die einfachere Erklärung ist die bessere, wenn es nicht gute Gründe gibt, eine voraussetzungsreichere Erklärung zu wählen. Um auf das Beispiel mit dem Kreidefleck zu Beginn des Kapitels zurückzukommen: Die Hypothese, dass Einbrecher im Haus waren und nichts gestohlen, aber einen Fleck hinterlassen haben, macht eine Annahme, die zur Erklärung der Beobachtung nicht notwendig und daher nur gerechtfertigt ist, wenn sich herausstellt, dass die einfacheren Hypothesen zur Erklärung des Phänomens nicht ausreichen.

      Ganz grob zusammengefasst besteht die wissenschaftliche Methode also darin, Theorien zur Erklärung beobachtbarer Phänomene zu formulieren. Als Prüfstein für die Validität einer Theorie dient die Überprüfung von Hypothesen durch Falsifikation der entsprechenden Nullhypothese. Kann die Nullhypothese nicht falsifiziert werden, muss die entsprechende Alternativhypothese (vorerst) verworfen und die Theorie entsprechend modifiziert werden.

      2.2.1 Sprachvergleich und Rekonstruktion: Die komparative Methode

      Als 2015 in Südafrika die Überreste einer zuvor unbekannten Menschenart, des Homo naledi, entdeckt wurden (vgl. Berger et al. 2015), war dies eine kleine wissenschaftliche Sensation, die auch auf ein breites Presseecho stieß. Für die Paläoanthropologie, die sich mit der Entwicklungsgeschichte des Menschen befasst, sind solche Funde von zentraler Bedeutung, denn um zu verstehen, wie sich unsere Spezies evolutionär entwickelt hat, ist es wichtig, möglichst viele verwandte Spezies miteinander zu vergleichen. Dies nennt man die komparative MethodeKomparative Methode (vgl. Fitch 2010: 44–46). Derlei Vergleiche können unter anderem dazu beitragen, Rückschlüsse auf den hypothetischen letzten gemeinsamen Vorfahren, den last common ancestor, von Menschen und Schimpansen zu ziehen.

      Die komparative MethodeKomparative Methode in der Sprachwissenschaft verfolgt ähnliche Ziele mit ähnlichen Mitteln. Sie ermöglicht es, Sprachstufen zu rekonstruieren, aus denen uns keinerlei Zeugnisse überliefert sind. Die komparative Methode baut auf der Grundannahme auf, dass zwischen den Sprachen der Welt Verwandtschaftsverhältnisse bestehen: Sprachen, die zur gleichen SprachfamilieSprachfamilie gehören, lassen sich demnach auf eine gemeinsame ProtospracheProtosprache zurückführen. So gehören etwa das Deutsche, Englische und Niederländische zur westgermanischen Sprachfamilie, während etwa Isländisch, Norwegisch, Dänisch und Schwedisch zur nordgermanischen zählen. Aus den Gemeinsamkeiten der jeweiligen Einzelsprachen lassen sich Eigenschaften der Protosprache, also des West- bzw. Nordgermanischen, rekonstruieren. Damit ist gemeint, dass wir eine wissenschaftlich fundierte Annahme darüber treffen, wie die jeweilige Protosprache ausgesehen haben könnte (vgl. Crowley & Bowern 2010: 79).

      Natürlich sind die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Sprachen weitaus komplexer, als dass man einfach nur für jede Sprachfamilie eine gemeinsame „Ursprache“ annehmen müsste. So gehören das West- und Nordgermanische ihrerseits zur germanischen Sprachfamilie, zusammen mit den ausgestorbenen ostgermanischen Sprachen, zu denen das Gotische gehört, das für die Rekonstruktion des Proto-Germanischen eine zentrale Rolle spielt (vgl. Lehmann 1994: 19). Die germanischen Sprachen indes gehören ebenso wie beispielsweise die romanischen und die slawischen Sprachen zur indoeuropäischen Sprachfamilie, die in der deutschsprachigen Literatur oft auch als „indogermanische“ Sprachfamilie bezeichnet wird.

      Um diese Verwandtschaftsverhältnisse zu entschlüsseln, bedarf es des Sprachvergleichs. Tab. 1 stellt die Kardinalzahlen von 1 bis 10 in sieben verschiedenen Sprachen gegenüber: drei westgermanischen, drei romanischen und einer sog. isolierten Sprache, d.h. einer Sprache, die mit keiner anderen bekannten Sprache verwandt ist. Schon ein oberflächlicher Vergleich zeigt deutliche Gemeinsamkeiten zwischen den Zahlwörtern in den eng miteinander verwandten Sprachen. Ebenso fällt auf den ersten Blick ins Auge, dass das Baskische sich ganz deutlich von den anderen Sprachen unterscheidet (außer im Falle von sei ‚sechs‘).



germanisch romanisch isoliert
Dt. Engl. Nl. Franz. Ital. Span. Bask.
eins one één un uno uno bat
zwei two twee deux due dos bi
drei three drie trois tre tres hiru
vier four vier quatre quattro cuatro lau
fünf