Tab. 1: Die Zahlen von 1 bis 10 in drei westgermanischen und drei romanischen Sprachen sowie einer sog. isolierten Sprache, dem Baskischen, das mit keiner anderen bekannten Sprache verwandt ist.
Für die Ähnlichkeiten gibt es eine einfache und plausible Erklärung: Die einander ähnlichen, aber doch deutliche Unterschiede aufweisenden Sprachen haben sich aus einer gemeinsamen Vorstufe (Protosprache) entwickelt und sind im Laufe der Zeit gleichsam auseinandergedriftet. Die Frage, welche der (heutigen) Sprachen „älter“ oder „jünger“ ist, stellt sich daher zunächst nicht. Die komparative Methode geht von der – natürlich stark idealisierenden – Annahme aus, dass Aufspaltungen zwischen Sprachen plötzlich stattfinden und dass nach der Aufspaltung der Protosprache kein Kontakt mehr zwischen den daraus resultierenden Tochtersprachen besteht (vgl. Campbell 2013: 143).
Zur Anwendung der komparativen Methode
Campbell (2013: 111–134) schlägt folgende Schritte für die Durchführung einer Rekonstruktion mit Hilfe der komparativen Methode vor (ähnlich auch Crowley & Bowern 2010: 78–94; Trask 2015: 196):
Schritt 1: Kognaten finden
Unter KognatenKognat (von lat. cognatus ‚verwandt; ähnlich/übereinstimmend‘) versteht man Formen, die auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen. Am Anfang der komparativen Methode steht folgerichtig die Aufgabe, potentielle Kognaten in verwandten Sprachen ausfindig zu machen, bzw. in Sprachen, bei denen man gute Gründe hat, von einer Verwandtschaft auszugehen.
Nicht alle potentiellen Kognaten müssen automatisch auch Kognaten sein. So haben wir bereits gesehen, dass Baskisch sei ‚sechs‘ zwar formal ein hohes Maß an Ähnlichkeit zu seinen Pendants in den romanischen Sprachen aufweist. Aber weil das Baskische nicht mit den romanischen Sprachen verwandt ist, kann es nicht mit Ital. sei oder Span. seis kognat sein. Allenfalls könnte es sich um ein Lehnwort handeln – eine These, die durchaus in Erwägung gezogen wurde (vgl. Uhlenbek 1940–41). LehnwörterLehnwort gelten jedoch nicht als Kognaten (vgl. Campbell 2013: 352), da EntlehnungEntlehnung zunächst ein rein „horizontaler“ Prozess ist, wie Fig. 3 zeigt: Ein Wort wie Restaurant beispielsweise wird zu einem bestimmten Zeitpunkt t aus einer Sprache (S1) in eine andere (S2) entlehnt – hier: aus dem Französischen ins Deutsche. Daher existiert es heute in beiden Sprachen, doch es lässt sich nicht auf eine gemeinsame Proto-Sprache zurückführen. Hingegen lässt sich für dt. Gast und engl. guest, zusammen mit weiteren Kognaten wie nl. gast, norw. gjest, isl. gestur oder dän. gæst eine gemeinsame Ursprungsform annehmen, nämlich germanisch *gasti-. Der Asterisk (*) zeigt hier an, dass es sich um eine rekonstruierte Form handelt, die selbst nicht belegt ist: Es ist vielmehr jene Vorform, die angesichts der überlieferten Formen als die wahrscheinlichste angesehen wird.
Fig. 3: Kognat vs. Lehnwort.
Schritt 2: Lautliche Entsprechungen aufzeigen
Mit Hilfe der (potentiellen) Kognaten werden anschließend systematische Lautentsprechungen herausgearbeitet. Diese müssen von solchen Entsprechungen unterschieden werden, die höchstwahrscheinlich dem Zufall geschuldet sind. So enden in Tab. 1 span. uno und cinco auf -o, die baskischen Pendants bat und bost auf -t. Hier ein Muster erkennen zu wollen, wäre indes übereilt, wie auch der Blick auf die anderen auf -o endenden spanischen Zahlwörter in der Tabelle zeigt, die keine baskische Entsprechung auf -t haben. Auch wäre eine Stichprobe von nur zwei Wörtern natürlich viel zu klein, um überzeugend eine Lautkorrespondenz aufzuzeigen.
Vergleichen wir hingegen zwei und zehn mit den Kognaten im Englischen und Niederländischen, so zeigt sich ein Muster, das wir auch in vielen anderen Wörtern wiederfinden, wie Tab. 2 verdeutlicht.
Deutsch | Englisch | Niederländisch |
Zahn | tooth | tand |
zahm | tame | tam |
(er)zählen | tell | (ver)tellen |
zehren (früher auch: ‚reißen‘, vgl. mhd. zerzern ‚zerreißen‘) | tear ‚(zer)reißen‘ | teren ‚zehren‘ |
Zinn | tin | tin |
Zuber | tub | tobbe |
Zwirn | twine | twijn |
Tab. 2: Beispiele für Kognaten mit /ts/ im Deutschen und /t/ in anderen westgermanischen Sprachen.
Anhand dieser und weiterer Wörter lässt sich eine relativ klare Lautentsprechung nachweisen: Dem /ts/ im Deutschen entspricht im Englischen und Niederländischen – und auch in anderen westgermanischen Sprachen – der stimmlose Plosiv /t/. Historisch ist dies, wie wir in Kap. 4.1.1 sehen werden, auf die 2. Lautverschiebung zurückzuführen, die das Deutsche von allen anderen germanischen Sprachen trennt. Um Wandelphänomene wie die 2. Lautverschiebung entdecken zu können, bedarf es jedoch zunächst des Sprachvergleichs – genauer: der komparativen Methode.
Schritt 3: Den Proto-Laut rekonstruieren
Woher weiß man jedoch, dass bei den in Tab. 2 genannten Beispielen /ts/ der jüngere Laut ist und /t/ der ältere? Hierfür gibt es verschiedene Indizien. Erstens finden zahlreiche Lautwandelprozesse sprachübergreifend in eine bestimmte Richtung statt (Direktionalitätsprinzip): So gibt es viele Sprachen, in denen ein Wandel von /k/ zu /f/ belegt ist, während dieser Wandel in der umgekehrten Richtung praktisch nicht vorkommt (vgl. Campbell 2013: 113).
Zweitens