Margrit Stamm

Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung


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Art und Weise zu nutzen, nicht vollständig. Eine Beschränkung besteht beispielsweise in der Tendenz, auf einen Aspekt in einer komplexen Situation zu fokussieren. Wenn wir einem fünfjährigen Kind identische Gläser mit der gleichen Menge Wasser zeigen, dann sagt es, dass diese Mengen die gleichen seien. Wenn jedoch das Kind sieht, dass wir die Inhalte von einem Glas in ein höheres, schmaleres Glas umgießen, dann sagt es, dass im engen Glas nun mehr Wasser sei als im anderen. Das Kind macht diesen Fehler, weil es auf die Höhe des Wassers fokussiert und dabei das andere wichtige Merkmal, die Breite ignoriert. Kinder im präoperationalen Stadium haben auch Schwierigkeiten zu verstehen, dass andere die Welt nicht so wie sie sehen. Dies ist ein Phänomen, das Piaget «Egozentrismus» nannte. Gemeint ist damit eine Haltung junger Kinder, die Welt nur aus der eigenen Perspektive wahrzunehmen. Dies gilt sowohl für physikalische als auch für soziale und emotionale Phänomene.

      Auf der Stufe der konkreten Operationen (sieben/acht bis elf/zwölf Jahre) erwirbt das Kind die Konzepte der Invarianz – eine Voraussetzung des Zahlbegriffs – und der Seriation, d. h., es kann Reihen bilden, erweitern oder unterscheiden. Zudem ist es gemäß Piaget in diesem Entwicklungsstadium in der Lage, logisch über konkrete Dinge nachzudenken. Es weiß nun, dass Wasser, das in verschiedene Gefäße geschüttet wird, in der gleichen Menge vorhanden sein muss, jedoch unterschiedlich aussehen kann. Allerdings haben Kinder in diesem Alter immer noch Schwierigkeiten, über stark abstrakte Simulationen nachzudenken. So haben sie Mühe, differente Konzeptionen der Gerechtigkeit anzusehen oder unterschiedliche Welten zu verwenden, wie sie etwa in den science fictions vorkommen.

      Das letzte Stadium der Entwicklung ist das der formalen Operationen, welches mit zwölf Jahren beginnt und bis zum Erwerbsalter dauert. Piaget glaubte, dass Kinder in dieser Phase über pure Abstraktionen nachdenken und ausgeklügelte Denkstrategien anwenden können. Er ging beispielsweise davon aus, dass Kinder in diesem Alter über Moral abstrakt denken und die damit verbundenen Implikationen aus einer unterschiedlichen Sicht von Moralität betrachten können. Ebenso überzeugt war er, dass sie systematisch über komplexe Situationen nachdenken können. Als grundlegend für alle vier Phasen erachtete Piaget folgende Merkmale:

      • Jede Entwicklungsstufe bildet ein für sich abgeschlossenes Ganzes. Sie ist die Grundlage für die nächste Stufe, auf der die Elemente der vorangehenden Stufe zu einem neuen Ganzen verwoben werden.

      • Die Stufen werden immer in der gleichen Reihenfolge durchlaufen. Sie sind universell, d. h. in allen Kulturen gleich.

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      • Das Überspringen einer Stufe ist nicht möglich. Doch können sie in unterschiedlicher Geschwindigkeit durchlaufen werden.

      Laut Piaget ist die kognitive Entwicklung durch eine allgemeine Äquilibrationstendenz gekennzeichnet. Gemeint ist damit der Wunsch, einen Gleichgewichtszustand zu erreichen. Jeder Mensch möchte in Einklang mit sich und seiner Umgebung leben: Was er nicht versteht, ruft eine gewisse Spannung hervor, die er durch Lernen überwinden will. Dies geschieht mittels der Adaption. Sie besteht aus zwei komplementären funktionalen Prozessen:

      • die Veränderung der Umwelt, um diese den eigenen Bedürfnissen und Wünschen anzupassen (Assimilation). Ein Beispiel ist die Nachahmung der Eltern durch das Kind.

      • die Veränderung des eigenen Verhaltens, um sich selbst den Umweltbedingungen anzupassen (Akkommodation). Ein Beispiel ist die Anpassung im symbolischen Kinderspiel: «Ich wäre jetzt die Mutter, und du wärst jetzt das Baby …»

      Während der Assimilation benutzt das Kind seine gegenwärtigen Schemata, um die äußere Welt zu interpretieren. Bei der Akkommodation schafft das Kind neue Schemata oder passt alte an, wenn es bemerkt, dass die gegenwärtigen Denkweisen nicht vollständig der Umwelt angepasst sind. Gemäß Piaget variiert das Gleichgewicht (Äquilibration) zwischen Assimilation und Akkommodation über die Zeit hinweg. Befinden sich Kinder in einer «stabilen Phase», so assimilieren sie mehr, als sie akkommodieren. Verändern sie sich in kognitiver Hinsicht jedoch rasch, dann befinden sie sich in einem Desäquilibrationsprozess, in welchem sie merken, dass neue Informationen nicht in ihr gegenwärtiges Schema passen. Deshalb müssen sie sich von der Assimilation hin zur Akkommodation bewegen.

      Zur Kritik an Piagets Theorie

      Insgesamt hatte Piagets Theorie eine bahnbrechende Breitenwirkung. Dies gilt auch heute noch. Fast alle neueren Theorien zur kognitiven Entwicklung fußen mehr oder weniger auf seinen Grundlagen. Sie untermauern das Bild des Kindes als aktiven Lerners und emsigen Entdeckers, der sein eigenes Wissen durch die Interaktion mit der Umwelt konstruiert und sich dieses nicht durch die Übernahme passiven Wissens aneignet. Trotzdem wird heute zunehmend Kritik laut, dass Piaget verschiedene Aspekte stiefmütterlich behandelt oder unterschätzt habe. Dazu gehören

      • seine Vorstellungen zu den Lernpotenzialen junger Kinder: Vor allem Kinder mit akkumuliertem substanziellem Wissen in spezifischen Bereichen erbringen |41◄ ►42| auf einem höheren Niveau Leistungen, als dass dies aufgrund ihres Alters und Entwicklungstands erwartet werden könnte. Die Entwicklung schreitet somit möglicherweise nicht im von Piaget erwarteten Sinn in Phasen fort. Bekannt geworden sind dabei die Dinosaurierstudien. Solche Kinder sind beispielsweise in der Lage, Dinosaurier auf der Basis multipler Kriterien (auf dem Land oder im Wasser lebend; karnivor oder herbivor, etc.) einzuteilen. Damit demonstrieren sie eine Klassifikationsfähigkeit, welche jenseits der Erwartungen liegt (Gobbo & Chi, 1986).

      • die Anlagefaktoren: Kritisiert wird beispielsweise, dass Piaget der individualisierenden Wirkung von Anlagefaktoren und der Tatsache, dass jedes Kind ein einmaliges Individuum mit eigenen Begabungen, Talenten und Neigungen ist, zu wenig Rechnung getragen hat.

      • die kulturspezifischen Faktoren: Ähnlich kritisiert wird, dass Piaget die differenzierenden Wirkungen des kulturellen Hintergrunds und die sozioökonomischen Bedingungen, in denen ein Kind auf wächst und die seine Entwicklung mit beeinflussen, zu wenig in seine Überlegungen einbezogen hat.

      • die fehlende Flexibilität des Stufenmodells: Kritisiert wird, dass sich ein Kind je nach Situation oder Aufgabe einmal auf der einen, ein andermal auf der anderen Stufe befinden kann. Kinder sind somit weniger abhängig von reifebedingten Einschränkungen und können Fähigkeiten gleichmäßiger und allmählicher entwickeln. Auch wird heute verstärkt postuliert, dass Kinder von der unstrukturierten Erkundung ihrer Umwelt stärker profitieren als von strukturierter Übung.

      • die Übernahme von Perspektiven anderer: Kinder, so wird verschiedentlich kritisiert, seien schon vor der Schulzeit in der Lage, Perspektiven anderer einzunehmen. Repacholi und Gopnik (1997) haben beispielsweise nachgewiesen, dass das Denken junger Kinder zwar tatsächlich egozentrisch ist, aber unsere Wahrnehmungen über das, was Kinder wissen, von der Aufgabe abhängen, mit der wir ihr Wissen überprüfen. So verwendeten die Autoren eine neue Aufgabe, um den Egozentrismus zu untersuchen.

      In ihrem Experiment hatten 14 und 18 Monate alte Kleinkinder die Gelegenheit, das Essen zu bestimmen, das junge Kinder typischerweise lieben respektive nicht lieben: Kartoffelchips und Brokkoli. Vorauszusehen war, dass die meisten Kinder Kartoffelchips bevorzugten. Im Verlaufe des Experiments beobachtete jedes Kind eine erwachsene Person, welche die beiden Speisen probierte. In der zentralen Phase sah das Kind, wie die Person nach dem Probieren der Kartoffelchips |42◄ ►43| ein deutliches Missbehagen zeigte und eine große Zufriedenheit beim Genuss von Brokkoli. Später saß die gleiche erwachsene Person dem Kind gegenüber und stellte eine Schale mit Kartoffelchips und eine mit Brokkoli auf den Tisch, legte ihre Hände jeweils in äquidistanter Entfernung auf den Tisch neben die beiden Schalen und fragte: «Kannst du mir einige geben?» Wenn das Kind egozentrisch ist, dann ist es nicht in der Lage zu begreifen, dass die Experimentierperson Brokkoli möchte. Deshalb wird es ihr Kartoffelchips geben. Tatsächlich gaben ihr mehr als 90% der Kinder Kartoffelchips, obwohl sie gesehen hatten, dass sie eine Abneigung gegenüber diesen hatte. Die Autoren schlossen daraus, dass diese Kinder nicht in der Lage gewesen waren zu verstehen, dass andere Personen eine unterschiedliche Präferenz haben. 18 Monate alte Kinder verfügten jedoch bereits über dieses Verständnis, denn diese boten zu 70% Brokkoli an.

      • die fehlenden pädagogischen Schlussfolgerungen: Kritisiert