teilhat. Als beziehungsfähiges und aktives Individuum steht es von Anfang an mit seinen Eltern und seiner Umgebung in Beziehung. Der Austausch und die Beeinflussung erfolgen gegenseitig.
Privilegierte und nicht privilegierte Wissensdomänen
Mit der Beschreibung des «kompetenten Säuglings» hat die Säuglingsforschung dazu beigetragen, das Bild der hilflosen Frühgeburt zu revidieren. Mit diesem Sichtwechsel wurde die erneute intensive Erforschung des Lernens von jungen Kindern möglich. Eine bedeutende Relevanz hat dabei die Unterscheidung privilegierter von nicht privilegierten Wissensdomänen (Stern, 2004). |46◄ ►47|
• Der Erwerb von privilegiertem Wissen geschieht intuitiv, «aus sich heraus», ohne besondere Anstrengung oder Unterweisung. Die Tatsache, dass Menschen – ähnlich wie Tiere – mit Instinkten ausgestattet sind, die ihnen das Lernen erleichtern, ist jedoch lange Zeit vernachlässigt worden. Erst in jüngerer Zeit stellte man fest, dass Kinder von Geburt an eine Lernbereitschaft mitbringen und sie somit in sehr vielen Bereichen gut vorbereitet sind. So braucht das Neugeborene für die komplizierte Motorik des Saugens kein Lernprogramm, sondern nur bestimmte «start up»-Mechanismen. Den aufrechten Gang erwerben junge Kinder ohne Anleitung oder bewusste Strategie. Solche Lernvorgänge sind biologisch programmiert und stehen allen Menschen aller Kulturen von Anfang an zur Verfügung.
• Nicht privilegiertes Wissen ist uns nicht in die Wiege gelegt. Dessen Erwerb erfordert den Einsatz von Lernstrategien, von bewusster Zielsetzung und Anstrengung. Nicht privilegiertes Lernen wird intentional, motiviert und systematisch erworben. Weil es stark von der Qualität der jeweiligen familiären, sozialen, pädagogischen und kulturellen Umgebung und der dort handelnden Personen beeinflusst wird, ist es störanfällig. Der Kontext, in dem wir aufwachsen, kann uns den Zugang zu diesen Wissensdomänen öffnen, aber auch erschweren oder gar blockieren.
Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Wissensdomänen ist von großer Tragweite. Weil sich herausgestellt hat, dass nicht privilegiertes Lernen zeitaufwendig ist und weil solche Wissensdomänen Kompetenzen umfassen, die in unserer Wissensgesellschaft bedeutsam sind – viele Kinder mit Minoritätshintergrund jedoch gerade nicht in genügendem Ausmaß über sie verfügen –, ist frühkindliche Bildungsförderung für sie besonders relevant. Zu den nicht privilegierten Wissensdomänen gehören die Schrift, das Zahlensystem und naturwissenschaftliche Phänomene, aber auch frühe Formen der Metakognition und Selbstregulation. Metakognition meint das eigene Wissen einer Person über die kognitiven Vorgänge und über lernrelevante Eigenschaften. Die Förderung der Entwicklung metakognitiver und affektiver Lerndimensionen kann die Kinder befähigen, schulbereite, lernwillige und fähige Lerner zu werden. Als frühe Form der Selbstregulation gilt die private Sprache (private speech). Beobachtet man junge Kinder bei alltäglichen Verrichtungen, dann entdeckt man, dass sie oft laut mit sich selbst sprechen. Piaget nannte dieses Phänomen egozentrische Sprache. Er begründete sie damit, dass ein junges Kind Schwierigkeiten hat, die Perspektive anderer einzunehmen und die egozentrische Sprache deshalb den Sinn eines Selbstgesprächs bekommt. Die kognitive Reifung und bestimmte Sozialerfahrungen mit Gleichaltrigen – so seine Annahme – würden diese egozentrische Sprache beenden.
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In seiner Publikation «Denken und Sprechen» entwarf Wygotski (1971) eine andere Sichtweise. Er ging davon aus, dass Kinder selbstangeleitet mit sich selbst sprechen und dass die private Sprache die kognitiven Aktivitäten lenkt und aufrechterhält. Deshalb erachtete er sie als Grundlage für alle höheren kognitiven Prozesse und nicht wie Piaget als Mangel an Reife und an Perspektivenübernahme. Fast alle Untersuchungen der letzten Jahre haben Wygotskis Sicht bestätigt. Sie verweisen darauf, dass Kinder diese private Sprache mit zunehmendem Alter dann benutzen, wenn sie schwierige Aufgaben zu lösen haben und nicht genau wissen, wie sie vorgehen sollen.
Theory of Mind
Die sogenannte Theory of Mind meint die Fähigkeit, sich Bewusstseinsvorgänge in anderen Personen vorzustellen und diese in der eigenen Person zu erkennen, also Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten, Erwartungen und Meinungen zu vermuten. Dieses Konzept der Überzeugung ist ein Grundelement unserer naiven Alltagspsychologie. Kinder entwickeln es relativ spät, erst im Alter von drei bis vier Jahren, dann nämlich, wenn sich das Gedächtnis und Problemlösefähigkeiten weiter entfalten und sie beginnen, über ihr eigenes Denken nachzudenken. Konkret lernt das etwa drei- bis vierjährige Kind, sich zu überlegen, was andere Personen denken. Im Alter von fünf Jahren können Kinder Perspektivenübernahmen durchführen und auf den Wissensstand eines Zuhörers Rücksicht nehmen. Sie können zwischen Wirklichkeit und Schein unterscheiden. Zwar sind Dreijährige schon dazu in der Lage. So verstehen sie zum Beispiel, dass man einen realen Hund, nicht aber einen imaginären Hund, streicheln kann. Sie lernen nun, dass man etwas denken kann, ohne dies zu sehen oder zu berühren. Sie denken aber noch, dass sich Menschen immer so verhalten, dass dies mit ihren Wünschen übereinstimmt. Sie sehen noch nicht, dass auch Annahmen ihre Handlungen beeinflussen können. Mit etwa vier Jahren merken sie, dass das Verhalten sowohl von Wünschen als auch von Annahmen bestimmt wird. Die Maxi-Geschichte von Wimmer und Perner (1983) belegt diesen markanten Entwicklungsfortschritt. Sie bildet das Instrument zur Erfassung des Verständnisses eines falschen Glaubens.
«Maxi und seine Mutter kommen vom Einkaufen nach Hause. Maxi hilft seiner Mutter, die Einkäufe auszupacken. Er legt die Schokolade in den grünen Schrank. Maxi merkt sich genau, wo er die Schokolade hingetan hat, damit er sich später welche holen kann. Dann geht er auf den Spielplatz. Während er weg ist, braucht seine Mutter etwas Schokolade zum Kuchenbacken. Sie nimmt die Schokolade aus dem grünen Schrank und tut ein wenig davon in den Kuchen. Dann legt sie sie zurück, aber nicht in den grünen, sondern in den blauen Schrank. Sie geht aus der Küche, um Eier zu holen. Dann kommt Maxi hungrig vom Spielplatz zurück.
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Testfrage: Wo wird Maxi die Schokolade suchen? (Die Geschichte wird mit Puppen und einer Puppenhausküche ausagiert. In der Küche gibt es nur zwei Schränke, einen grünen und einen blauen.)
Ergebnisse: Nahezu alle dreijährigen Kinder antworten auf die Testfrage: ‹Im blauen Schrank› (wo die Schokolade tatsächlich ist), während 40 bis 80% (je nach experimenteller Bedingung) der Vier- bis Fünfjährigen korrekt ‹im grünen Schrank› antworten.»
Kinder lernen somit zwischen drei und fünf Jahren, die Überzeugungen einer Person mit einzubeziehen. Davor verstehen sie nicht, dass subjektive Überzeugungen von der Realität abweichen können. Deshalb berücksichtigen sie diese nicht bei ihrer Handlungsvorhersage.
3.1.4 Hirnforschung und FBBE
Eine Maxime der Hirnforschung lautet: Die intensive Förderung und Anregung bereits ab der frühesten Kindheit schafft ein differenzierteres neuronales Netzwerk. Ein solches Netzwerk ist grundlegend für das soziale, emotionale und kognitive Lernen. Im Mittelpunkt stehen mittlerweile vor allem die Befunde, wonach nicht nur Lernprozesse, sondern auch das Entstehen emotionaler Bindungen mit Hirnfunktionen erklärt und analysiert werden können. Postuliert wird dabei, dass Prägungen der frühen Kindheit – erworben in schmalen Zeitfenstern – später kaum revidierbar seien und so Kompetenzen bereits früh festgelegt würden. Gerade im Zuge der Diskussion um frühkindliche Bildung drängen solche Erkenntnisse in die bildungspolitische Debatte, die noch vor 20 Jahren kaum jemand mit Bildung in den ersten Lebensjahren in Zusammenhang gebracht hätte.
Wie glaubwürdig sind solche Erkenntnisse? Welche konkreten Konsequenzen haben sie für den bisher klassisch pädagogisch geprägten Bildungsbegriff? Muss die Idee der (humanistischen) Erziehung zugunsten eines umfassenden Optimierungsprogramms für das kindliche Hirn aufgegeben werden? Oder lassen sich Erkenntnisse der Hirnforschung in bisherige pädagogische Ansätze problemloser integrieren, als vorschnell angenommen wurde? Nachfolgend werden solche Fragen angeschnitten, indem zur Entwicklung des Gehirns, zu seiner Plastizität grundlegende Informationen zusammengestellt werden und dabei auch die aktuell besonders brisanten Fragen nach den frühen Bindungserfahrungen, der angemessenen Stimulierung und den Zeitfenstern angeschnitten werden.