Margrit Stamm

Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung


Скачать книгу

hätten und der pädagogisch-psychologischen Praxis hätten zur Verfügung gestellt werden sollen.

      3.1.2 Wygotskis soziokulturelle Theorie

      Die Theorie Piagets findet sich in den Arbeiten Lev Wygotskis wieder (1987), wenn auch mit anderem Fokus. Dieser bezeichnete die kognitive Entwicklung als ein Hineinwachsen in eine bestimmte Kultur. Der Aufwachsprozess von Kindern ist deshalb immer in einen sozialen Kontext eingebunden und beeinflusst die Strukturierung ihrer kognitiven Welt. Wygotski ging davon aus, dass die geistigen Aktivitäten des Kindes (Aufmerksamkeit, geübtes Gedächtnis, Problemlösen etc.) von sozialen Interaktionen abhängig sind. Wenn Kinder mit Erwachsenen interagieren, lernen sie auf eine Art und Weise zu handeln und zu denken, die in ihrer Kultur bedeutsam ist.

      Damit hat Wygotski darauf verwiesen, dass es die Erwachsenen sind, welche die Interaktion mit dem Kind derart strukturieren, indem sie es so an die Aufgaben heranführen, dass diese etwas über seinen Kompetenzen liegen. Dabei ist das Maß an direktem Engagement und Führung der Erwachsenen der kritische Punkt. Dazu hat Wygotski den Begriff der Zone der nächsten (oder proximalen) Entwicklung (ZNE) eingeführt. Damit ist «das Gebiet der noch nicht ausgereiften, jedoch reifenden Prozesse» gemeint (Wygotski, 1987, S. 83). Das unterste Niveau der ZNE ist definiert durch die unabhängige Leistung des Kindes und ihr oberes Niveau durch das Mögliche, was das Kind mithilfe eines Erwachsenen tun kann. So lange, wie das Wissen des Kindes dort verbleibt, wo Verbesserungen mit Erwachsenenunterstützung immer noch möglich sind, verbleibt es innerhalb der ZNE. Mit der Hilfe von Erwachsenen kann es |43◄ ►44| sich in Richtung unabhängigen und autonomen Denkens entwickeln. Die zentralen Merkmale der ZNE erfordern somit, dass Kinder in diesem Bereich angesprochen werden, damit sie unter der Führung von fortgeschritteneren Peers oder Erwachsenen lernen können. Diese strukturieren das Lernen so, dass das Kind durch die Aufgaben geführt wird, welche gerade unterhalb ihrer aktuellen Kapazität liegen.

      In der Praxis sind solche Strategien allerdings wenig verbreitet. Denn in der Regel beurteilen Erwachsene nur den aktuellen Entwicklungsstand des Kindes. Sie beobachten, was es alleine kann, welche Kenntnisse und Fähigkeiten es besitzt. Selten fragen sie sich jedoch, welchen Bereich sich das Kind als Nächstes aneignen wird, was also seine ZNE ist. Damit werden Gelegenheiten individueller Förderung ausgeblendet. Werden jedoch junge Kinder in der ZNE gezielt gefördert, schreitet nicht nur ihre kognitive Entwicklung schneller voran, sondern es wird oft auch ersichtlich, dass Kinder viel weiter in ihrer Entwicklung sind als angenommen. Wygotski sagt: «Wenn wir also untersuchen, wozu das Kind selbständig fähig ist, untersuchen wir den gestrigen Tag. Erkunden wir jedoch, was das Kind in Zusammenarbeit zu leisten vermag, dann ermitteln wir damit seine morgige Entwicklung» (ebd., S. 83). Hierfür gilt das sogenannte Scaffolding als wichtige Strategie, welche die erwachsene Person nutzen kann. Unter Scaffolding wird eine Methode zur Unterstützung des Lernprozesses durch (a) die Bereitstellung einer Orientierungsgrundlage in Form von Anleitungen, Denkanstößen und anderen Hilfestellungen verstanden und (b) durch die schrittweise Wiederentfernung dieses Gerüsts, sobald das Kind fähig ist, eine bestimmte Teilaufgabe eigenständig zu bearbeiten (vgl. hierzu auch Kapitel 6). In einer bestimmten Art und Weise ist das Scaffolding auch eine Antwort auf die Feststellung Piagets, das Kind würde sich von einem Stadium ins nächste weiterentwickeln. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass in Wygotskis Theorie die Kompetenzentwicklung nicht so sehr von einem endogenen Entwicklungsprozess, sondern stärker von der Instruktion abhängig ist.

      3.1.3 Bedeutsame Weiterentwicklungen

      Seit den 1990er-Jahren haben sowohl die Entwicklungspsychologie als auch die Kognitionsforschung dazu beigetragen, das frühpädagogische Wissen weiter zu differenzieren. Nachfolgend werden einige Bereiche diskutiert, welche für die frühpädagogische Bildungsförderung besonders relevant sind. Es sind dies Diskurse zum kompetenten Säugling, die Unterscheidung privilegierter und nicht privilegierter Wissensdomänen sowie die Theory of Mind.

      |44◄ ►45|

      Der kompetente Säugling

      Im vorhergehenden Kapitel wurde erläutert, dass Piaget die ersten beiden Lebensjahre des Kindes als «sensumotorisch», als nicht symbolisch, sondern vollkommen handlungsgebunden und als lediglich mit Reflexen und sensorischen Fähigkeiten ausgestattet, bezeichnet hat. Diese grundlegende Annahme ist heute überholt. Die Entwicklungspsychologie und die Säuglingsforschung gehen davon aus, dass wesentliche Grundelemente numerischen und psychologischen Wissens bereits in den ersten Lebensmonaten nachweisbar oder vielleicht gar angeboren sind (Pauen, 2006). Wenn dem so ist, dann bestehen die Grundlagen für lebenslanges Lernen schon sehr früh. Demzufolge müsste die Stufentheorie Piagets, nach der sich das logische Denken in Stufen und bereichsübergreifend vollzieht, relativiert werden.

      Die moderne Forschung enthüllt damit Erstaunliches und Verblüffendes: Das Bild des unbedarften, teilnahmslosen, vor sich hin dämmernden, gefühlslosen und undifferenzierten Säuglings scheint nicht der Realität zu entsprechen. Auf der Basis von Direkt- und Videobeobachtungen und von faszinierenden Experimenten in der natürlichen Umgebung des Neugeborenen entstand die neue Vorstellung des «kompetenten Säuglings» (Dornes, 2001a; b). Mit kompetent ist gemeint, dass wir uns von Anfang an einem beziehungsfähigen, initiativen, differenzierten jungen Wesen gegenübersehen, das bereits mit verschiedensten Gefühlen ausgestattet ist und seine Entwicklung aktiv wählend mitgestaltet. Kompetent heißt natürlich nicht, dass dieses kleine Wesen nun alles selbst gestaltet und ein gleichberechtigter Partner ist, den man mehr oder weniger sich selbst überlassen kann.

      Den Mittelpunkt dieser neuen Erkenntnisse bilden drei Paradigmen: das Präferenzparadigma, das Habituierungsparadigma und das Überraschungsparadigma. Sie stehen stellvertretend für Experimente, mit deren Hilfe man Fragen an die Säuglinge stellen und das beobachtete Verhalten als Antwort auf die gestellte Frage verstehen kann (Stern, E. 2002).

      • Das «Präferenzparadigma» stellt die Frage, ob ein Säugling zwei Dinge unterscheiden kann und eines davon vorzieht. Im Experiment zeigt man ihm zwei verschiedene Gesichter nebeneinander und misst die Zeitdauer, während deren er sie fixiert. Blickt er eines länger an als das andere, signalisiert er, dass er unterscheidet und eines bevorzugt. Wenn ihm hintereinander, mit einer Pause dazwischen, zwei Reize gezeigt werden, kann festgestellt werden, dass er auch diese unterschiedlich lange fixiert, d. h. einen vorzieht.

      • Das «Habituierungsparadigma» stellt die Frage, ob die Aufmerksamkeit auf einen Reiz nach einer gewissen Zeit erlahmt, respektive ob sich der Säugling

      |45◄ ►46|

      daran gewöhnt. Im Experiment werden u. a. dazu die Schnuller der Säuglinge mit dem Abspielen eines Films gekoppelt. Dabei zeigt sich, dass nach einer bestimmten Zeit die Saugaktivität abnimmt. Wird hingegen ein neuer Film gezeigt, nimmt die Saugaktivität wieder zu. Wenn also ein neuer Reiz auftaucht, kehrt die Aufmerksamkeit wieder zurück.

      • Das «Überraschungsparadigma» stellt die Frage, ob der Säugling Erwartungen hat und Abweichungen bemerkt. Im Experiment wird den Säuglingen hinter einer schalldichten Glasscheibe das Gesicht einer Frau gezeigt, die spricht. Der Ton der Stimme wird so eingespielt, dass er nicht aus dem Mund, sondern von der Seite kommt. Bereits im ersten Monat reagieren die Säuglinge erstaunt, was bedeutet, dass sie eine Erwartung hatten. Das Erstaunen wird am veränderten Gesichtsausdruck, an Unruhe und einer Pulsfrequenzänderung abgelesen. Dies bedeutet außerdem, dass die Wahrnehmung eines Unterschieds psychische Bedeutung haben kann. Sie drückt sich durch erhöhte Erregung aus. Wenn Mütter angewiesen werden, ihr natürliches Interaktionsverhalten zu ändern und ohne Veränderung ihrer Gesichtsmimik auf die Annäherungsgesten ihres Kindes zu reagieren, so stellt man schon bei drei Monate alten Säuglingen darüber Erstaunen fest. Sie bemerken also, dass sich die Mutter nicht benimmt wie gewohnt, und sie unternehmen nachdrückliche, von starken motorischen Äußerungen begleitete Versuche, die Mutter umzustimmen.

      Diese Forschungsresultate machen deutlich, wie sehr die neue Säuglingsforschung die alten Vorstellungen über die Neugeborenen- und Säuglingszeit revolutioniert hat. Sie bestätigen aber auch wissenschaftlich, was viele Mütter und andere Betreuungspersonen