Susanne Talabardon

Chassidismus


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an Ihn, Sein Name sei gelobt: Jene [geschieht] durch die Buchstaben der Tora und des Gebets, indem man sein Denken und sein Inneres an die innere Geistigkeit anschmiegt, die inmitten der Buchstaben ist – [so] die mystische Bedeutung des [Hld 1,2]: ‚Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes.‘ Devequt des Geistes an den Geist. (Jakob Josef, Ben Porat, fol. 59c)

      Gottesdienst in KörperlichkeitAuf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als hätte Israel ben Eli’eser mit dieser Darstellung eine eigentlich ganz traditionelle jüdische Lebensweise vor Augen gehabt. Sollte es sich beim Ideal der Devequt nur wieder um das gelehrte Treiben der Eliten handeln, die in Studium und Gebet nach besonderer Vervollkommnung strebten? Wie verhält sich dies anspruchsvolle Procedere zum „Gottesdienst in Körperlichkeit“, dem zufolge auch das alltägliche Reden und Tun zu einer heiligen Handlung transformiert werden müsse?

      Die beschriebene Spannung weist auf ein Problem hin, das sowohl innerhalb der chassidischen Bewegung als auch in der Forschung virulent werden sollte: Richtete sich nun die Forderung, Devequt zu erreichen, an alle Juden oder nur an religiöse Spezialisten und die gelehrten Eliten? Für den Ba’al Schem Tov stellte sich, und darin liegt die besondere Radikalität seiner Konzeption, diese Aufgabe jedem Juden:

      Der Glaube an Ihn, gelobt sei Sein Name, das ist die Devequt und das ist die vollendete Vollkommenheit etc. […] Und der Glaube ist der Grund für das Vertrauen, mit dem man auf den Ewigen, Er sei gelobt, vertraut in all seinen Erlebnissen und den Ewigen, Er sei gelobt, liebt, um Ihm zu dienen. (Jakob Josef, Tol’dot, Eqev, fol. 168d)

      Wer imstande ist, dieser ebenso elementaren wie anspruchsvollen Forderung zu entsprechen, kann nach Auffassung des Besch“t als Zaddik angesehen werden (vgl. Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 797–799):

      Ich hörte aus dem Munde des heiligen Ba’al Schem Tov, sein Andenken sei zum Segen, […] dass der Kern der Vollendung eines jeden einzelnen Zaddik [darin besteht], dass seine Devequt von ihm nicht unterbrochen wird – auch nicht für einen Augenblick. Ebenso in all seinen Worten, wenn er mit den Menschen Worte sprechen muss, die in den Augen der Welt nötig sind, dann sehe er zu, dass er in der Angelegenheit [in der Weise] spricht, dass die Devequt, um Himmels willen, nicht unterbrochen wird. (Śefer Ba’al Schem Tov Bd. I, Bereschit, § 107, S. 54)

      Andererseits muss an dieser Stelle betont werden, dass sich das Problem der „Massentauglichkeit“ der Avoda be-Gaschmi’ut zunächst gar nicht stellte (Rapoport-Albert, God, S. 311). Der Ba’al Schem Tov und seine Anhänger waren samt und sonders potentielle Zaddikim. Sie gehörten der spirituellen und gelehrten Elite an und waren |55|als solche natürlich dazu prädestiniert, die permanente Devequt zu erreichen. Erst in dem Moment, da der Chassidismus eine breite Gefolgschaft auch in den sogenannten einfachen Schichten erzielte, entwickelte sich die zunächst universal angelegte Verknüpfung der steten Konzentration auf den Ewigen mit dem Begriff des Zaddik zu einer veritablen Belastung für den einzelnen Juden.

      Folgerichtig kann in dieser systematischen Überforderung das Fundament für die neue und revolutionierende Umformung des Zaddik zu einem Gemeindeleiter, Mittler und Gravitationszentrum innerhalb der werdenden chassidischen Strömung gesehen werden. Es kann kaum überraschen, dass sich ein solches Konzept bereits in der zweiten Generation, bei den Schülern des Israel ben Eli’eser, zu entwickeln beginnt.

      4.5. Kontrastprogramm: Schabtai Zvi (1626–1676) und seine Nachfolger

      Der Ba’al Schem Tov und Schabtai ZviZwischen Anhängern und Gegnern des werdenden Chassidismus wie auch in der Forschung wurde und wird heftig darüber gestritten, in welchem Verhältnis der Ba’al Schem Tov und sein Kreis zu den Anhängern des gescheiterten Messias Schabtai Zvi gestanden haben könnten. Waren sie vielleicht sogar selbst heimliche Anhänger des 1666 zum Islam konvertierten Prätendenten? Gehörten sie etwa zu den Unermüdlichen, die darauf hofften, Schabtai könne Lichtfunken aus den tiefsten Tiefen der Finsternis bergen? Spielten sie möglicherweise Jakub Frank (1726–1791) in die Hände, der sich für eine Reinkarnation Schabtais hielt und ebenfalls messianische Ansprüche erhob?

      Der aus Smyrna stammende Schabtai Zvi hatte sich, nach fieberhaftem Studium der Kabbala, selbst zum Messias proklamiert. In kürzester Zeit war es ihm gelungen, begeisterte Anhänger zu gewinnen. Dies galt für sein heimisches Kleinasien ebenso wie für weite Teile Europas. In Polen erhofften Zehntausende unmittelbar nach den Chmielnicki-Massakern (1648/49) ein baldiges Ende der Verfolgungen und den Anbruch des endzeitlichen Friedens. Als sich Schabtai jedoch nach Konstantinopel begab, um dort für seine Mission zu werben, wurde er vom Sultan arretiert und vor die Alternative gestellt, zu sterben oder zum Islam überzutreten. Schabtai konvertierte. Damit löste er eine tiefe Vertrauenskrise unter seinen Anhängern aus; die allermeisten wandten sich von ihm ab. Einige wenige der besonders treuen Anhänger hielten jedoch an Schabtai als ihrem Messias fest. Sie meinten, er habe Muslim werden müssen, um sozusagen aus der tiefsten Gottferne noch heilige Seelenfunken |56|zurückführen zu können. Diese Unentwegten, die noch dazu beargwöhnt und teilweise verfolgt wurden, bezeichnet man in der Forschung als „Kryptosabbatianer“ (verborgene Sabbatianer).

      Jakub FrankEin besonders illustrer Nachahmer Schabtai Zvis war der podolische Jude Jakub Frank (eigentlich Jankiew Lejbowicz; 1726–1791). Er behauptete, eine Re-Inkarnation von Schabtai Zvi zu sein, und proklamierte ein messianisches Zeitalter, in dem die Tora außer Kraft gesetzt sei. Frank und seine Anhänger waren Antinomisten; sie vertraten ein Konzept der ‚Reinigung durch Übertretung‘. Wie Schabtai Zvi, so wurde auch Jakub Frank von jüdischen Gemeinden gebannt und konvertierte schließlich – gemeinsam mit etlichen Leuten seines Gefolges – zum Katholizismus.

      Das 18. Jahrhundert in Ostmitteleuropa war in jedem Fall ein sehr ungünstiger Zeitpunkt dafür, kabbalistisch inspirierte spirituelle Reformen ins Werk zu setzen. Wollte man sich nicht dem Verdacht aussetzen, ein Krypto-Sabbatianer oder ein Anhänger Jakub Franks zu sein, musste jeder Eindruck vermieden werden, messianische Konzepte zu propagieren, exzentrischer Spiritualität zu frönen oder sich von der traditionell ausgerichteten Mehrheit zu separieren. Tatsächlich wurden einige der frühen Anhänger des Besch“t, darunter Nachman von Kosów, beschuldigt, einer sabbatianischen Gruppe anzugehören.

      War der frühe Chassidismus krypto-sabbatianischAuch in der wissenschaftlichen Literatur findet man wiederholt die Auffassung, der frühe Chassidismus sei wesentlich sabbatianisch beeinflusst worden (vgl. Scholem, Mystik, S. 358–367). Dies gelte sowohl für persönliche Kontakte, sogar für personelle Überschneidungen, als auch für theoretische Konzepte und gelebte Spiritualität (Weiß, Notes, S. 10–14; Circle, S. 29–35).

      Die Schwierigkeit von solcherlei Behauptungen besteht darin, dass Einflüsse selten religionshistorisch exakt zu etablieren sind. Anschuldigungen von Zeitgenossen gegen chassidische Meister waren in der zunehmend aufgeheizten Auseinandersetzung zwischen dem werdenden Chassidismus und seinen Gegnern sicherlich nicht besonders objektiv. Gewisse Ähnlichkeiten zwischen Krypto-Sabbatianern und ‚orthodoxen‘ Kabbalistenzirkeln waren hinsichtlich gelebter Spiritualität und praktizierter Gemeinschaft häufig unvermeidlich, da beide Gruppierungen mit lurianischen Modellen operierten. Und was die theoretischen Konzepte angeht, so wurden krypto-sabbatianische Texte (besonders in der Form ethischer Handbücher) nicht nur von den Chassidim, sondern auch von ihren sich als rabbinisch-traditionell definierenden Gegnern eifrig genutzt:

      |57|Die ethischen Werke, die von den Anhängern des Pseudomessias Schabtai Zvi im späten 17. und im Verlauf des 18. Jahrhunderts verfasst worden sind, stellen das extremste Beispiel eines Prozesses dar, in dessen Verlauf jüdische mystisch-häretische Autoren ethische Literatur verfassten, die von der orthodoxen Mehrheit des jüdischen Volkes angenommen wurde und befolgt worden ist. (Dan, Ethics, S. 1–2)

      Wesentlich prägnanter als die (vielleicht bestenfalls akademisch interessanten) Interferenzen beider Strömungen präsentieren sich die Unterschiede zwischen ihnen. Der osteuropäische Chassidismus teilte weder die klaren antinomistischen Tendenzen der Anhänger Schabtais oder Franks, noch deren akut-messianische Konzepte. Während etliche Frankisten – dem Beispiel Schabtais folgend – konvertierten, blieben die Chassidim in der Tradition ihrer Vorfahren treu und näherten sich im Laufe weniger Jahrzehnte dem Mainstream des rabbinisch verfassten Judentums erheblich an.