Susanne Talabardon

Chassidismus


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inmitten des Buchstabens Gimel und schuf die Welten unterhalb der Welt der Schöpfung, bis dass Er sich im Buchstaben Taw verhüllte. Und Er schuf die unteren Welten, die Malkhut genannt werden. […] Denn es verbarg und verhüllte sich der Heilige, Er sei gelobt, inmitten der 22 Buchstaben. (Jakob Josef, Tol’dot, Bereschit, fol. 8c)

      |51|Die Schöpfungskraft des WortesDas Konzept des Besch“t verarbeitet biblische Schöpfungslehre. Dies geschieht unter Berücksichtigung ihrer spätantiken und mittelalterlichen Deutungen, der zufolge der Ewige sprach und es ward. Die Schöpfung durch das Wort wird als eine Emanation des Alphabets interpretiert, das sich zu Worten zusammensetzt. Die absteigende Reihe der Buchstaben dient dabei als zunehmend dichter werdende Hülle um die göttliche Geistigkeit, die zugleich eine Abfolge mehrerer übereinanderliegender Welten verkörpert. Dabei repräsentiert der Olam ha-Azilut (עולם האצילות; in etwa: Welt der Emanation) die oberste der Welten. Darunter findet sich der Olam ha-Beri’a (עולם הבריאה; Welt der Schöpfung) und unter ihm weitere Welten. Diese werden hier Malkhut (מלכות; Königtum, d.i. die zehnte und somit letzte Śefira) genannt und ‚materialisieren‘ sich zunehmend. Mit der Verhüllung der Kräfte des Ewigen in den Buchstaben geht also eine wachsende Verbergung der ‚Geistigkeit‘ Gottes in der oder zur Materie einher.

      Kein Ort ist leer von IhmDas kosmologische Konzept des Ba’al Schem Tov hat zur Folge, dass „kein Ort [der Welt] leer von Ihm“ ist. Dieser Satz kann als eine Art Leitwort der frühen chassidischen Theologie gelten. Mosche Efrajim von Sudylków kolportiert ihn mehrfach unter Berufung auf seinen Großvater (z.B. Degel Machané Efrajim, ראה, fol. 224c). Die Konsequenzen eines solchen, religionswissenschaftlich als Panentheismus zu klassifizierenden Systems für die Sicht auf Mensch und Welt sind selbstverständlich enorm. Alles, was besteht, ist gewissermaßen ein aus hebräischen Buchstaben zusammengesetzter Text des Ewigen, der seine Existenz auf die in ihnen verborgene göttliche ‚Geistigkeit‘ zurückführt. Würden die Buchstaben zu ihrem Ursprung in Gott zurückkehren, fiele Alles sofort ins Nichts. Im Śefer ha-Tānjá des Schne’ur Salman von Ljady wird unter Berufung auf den Ba’al Schem Tov folgender Kommentar überliefert:

      ‚Und das Wort unseres Gottes hat für immer Bestand‘ [Jes 40,8b], und Seine Worte sind lebendig und beständig für alle Zeit etc. Denn wenn sich die Buchstaben, um Himmels willen, auch nur einen Augenblick entfernen und an ihren Ort zurückkehren würden, dann wäre der ganze Himmel tatsächlich wie Null und Nichts und es wäre, als ob das Gesamte nie gewesen wäre – tatsächlich wie vor dem Dictum ‚Es sei eine Feste‘ [Gen 1,6]. Und so mit allen Geschöpfen, die in allen Welten sind, den oberen und den unteren. Sogar dies materielle Land in seinem tatsächlichen mineralischen Aspekt: Wenn die Buchstaben der Zehn [Schöpfungs-] Worte, mit denen das Land an den sechs Tagen der Schöpfung erschaffen worden ist, sich auch nur einen Augenblick aus ihr entfernen würden – um Himmels willen – dann kehrte es tatsächlich zum Nichts und Null zurück, wirklich wie vor den sechs Tagen der Schöpfung. (Śefer Ba’al Schem Tov, Bereschit, § 28, S. 27)

      |52|Andererseits lässt die Präsenz des Ewigen überall in seiner Schöpfung keine tatsächliche (ontische) Existenz des Bösen zu. Wie alles andere, so ist auch das Böse letztlich ‚buchstäblich‘ vom Ewigen durchdrungen. Mehr noch: Es ist der verborgene, unter ‚Schalen‘ verhüllte Gott. Aus dieser Vorstellung ergibt sich, dass das Böse nicht zerstört werden muss, sondern nur verwandelt werden kann. Böse Worte und Taten müssen ‚geheilt‘, richtig geordnet und somit wieder zu ihrer göttlichen Wurzel zurückgeführt werden. In diesem Vorgang des „Aufhebens“ (im schönen Mehrfachsinn des deutschen Wortes) des Bösen in das Gute hinein wird die Störung und Verdrehung allen menschlichen Tuns und Redens, das sich aus den verhüllten Buchstaben des göttlichen Schöpferwortes zusammensetzt, ‚repariert‘ und somit wieder an ihre göttliche Wurzel angenähert.

      Die Aufgabe des MenschenNatürlich erhebt sich nun die dringliche Frage, auf welche Weise das Böse wieder zu seiner göttlichen Wurzel geführt werden kann. Der erste Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel besteht nach Auffassung des Besch“t darin, das Problem erst einmal zu erkennen.

      Da ich aufschrieb, was ich von meinem Lehrer, sein Andenken sei zum Segen und zum Leben in der kommenden Welt, hörte: […] In der Erkenntnis des Menschen, der erkennt und vertraut, dass der Ewige, Er sei gelobt, die ganze Erde mit Seiner Gewichtigkeit erfüllt; jede Bewegung und [jeden] Gedanken: [dass] alles von Ihm, Er sei gelobt, ist, dann ‚zerstieben alle Übeltäter‘ etc. [Ps 92,10b] […] Dies aber ist eine Bedeutungsebene des [biblischen Verses]: ‚Erkenne den Gott deines Vaters‘ [1 Chron 28,9] – wie ich auch in dieser Angelegenheit von ihm [dem Besch“t] hörte. (Jakob Josef, Zofenat Pa’aneach, 65b)

      JichudWer also erkennt, dass alles – jedes Lebewesen, jeder Gegenstand, jede Aktion und jedes Wort (sei es gut oder böse) – vom Ewigen erfüllt ist; dass sich hinter allem Gott selbst verbirgt, der wird sich von der Oberfläche der Dinge nicht mehr irritieren lassen. Nur gilt es, die möglicherweise in Unordnung geratenen Buchstaben wieder in ihre richtige Reihenfolge zu bringen und sie auf diese Weise mit ihrer göttlichen Wurzel zu verbinden. Dies ist eine Art meditativer Akt, den der Besch“t – in Anlehnung an traditionelle kabbalistische Begrifflichkeit – als Jichud (יחוד; Einung; Plural: Jichudim) bezeichnet. Im Kern geht es darum, die (männliche) Śefira Tif’eret (VI) mit ihrem weiblichen Partner, der Śefira Schekhina (X), zu vereinigen und somit den Strom des göttlichen Segens aus den oberen Sphären nach unten zu ermöglichen.

      Der Blick hinter die Fassade von Lebewesen und Dingen verlangt jedoch eine besondere Ausrichtung des Denkens, das sich mit dem Handeln zu einer vollkommenen Einheit verbinden muss. Anders als in älteren Formen der Kabbala forderte der Ba’al Schem |53|Tov das Streben nach Jichudim nicht nur für spirituelle Tätigkeiten ein, wie für das Tun der Gebote, Fest und Ritual oder die Gebete, sondern für jede beliebige Alltagshandlung und jedwedes menschliche Reden.

      Denken und HandelnWeiterhin soll Erwähnung finden, dass ich im Namen meines Lehrers [des Besch“t] eine Erklärung zum Vers [Qoh 9,10] hörte: ‚Alles, was deine Hand [zu tun] findet, das tue mit deiner Kraft, denn in der Unterwelt gibt es weder Erkenntnis noch Weisheit‘ etc. […] So wird der Gedanke ‚Mutter des Seins‘ (d.i. Śefira Bina; III) genannt und die Tat ist ‚Adonai‘ (אדני; mein Herr; d.i. Tif’eret; VI). Und wenn man beim Handeln die Tat mit dem Gedanken vereinigt, dann wird die Tat Jichud genannt: [Vereinigung] des Heiligen, Er sei Gelobt [Tif’eret, VI], mit Seiner Schekhina [X]. ‚Alles, was deine Hand [zu tun] findet, das tue mit deiner Kraft.‘ Soll sagen, dass der Gedanke Weisheit (חכמה/Chokhma) genannt wird: [das ist wie] Kraft [כח/Ko’ach] ‚[zu] etwas‘ [מה/Ma]. So sollst du das Tun deiner Hände verrichten: dass es die beiden verbindet; d.i. die Vereinigung der Schekhina mit dem Heiligen, Er sei gelobt [VI]. (Jakob Josef, Tol’dot, Wajjar, fol. 20a)

      Dieser zugegebenermaßen ziemlich komplizierte Text spiegelt die spezifische Gedankenwelt des Ba’al Schem Tov vermutlich akkurat: Es geht um die Verbindung des (alltäglichen) Handelns mit dem Denken, das sich auf Prozesse innerhalb der offenbaren Gottheit ausrichtet, das sich gewissermaßen an sie heftet. Die Einheit dieser Art menschlichen Denkens mit dem Handeln führt zu Vereinigung (Jichud) in den göttlichen Sphären, präzise: zwischen deren männlichen (Tif’eret) und weiblichen (Schekhina) Protagonisten. Die kreative Energie hinter diesem Streben verbirgt sich wieder einmal in den Buchstaben: Weisheit (Chokh-ma) ist die ‚Kraft zu etwas‘ (Ko’ach ma). Die richtige Anordnung der Schriftzeichen zu Worten enthüllt die tiefe Verbindung zwischen Denken und Handeln. In der Diktion der frühen chassidischen Meister wird diese weit über die traditionellen Pflichten des Menschen dem Ewigen gegenüber hinausreichende spirituelle Aktivität als „Gottesdienst in Körperlichkeit“ (עבודה בגשמיות/Avoda be-Gaschmi’ut) bezeichnet. Es können eben nicht nur Gebet, Gebot oder Studium der Tora als Dienst am Ewigen gelten, sondern jedwede physische Handlung kann dies – sofern sie von einer wirkmächtigen Ausrichtung begleitet wird (Etkes, Besht, S. 141).

      DevequtLetztendlich muss es dem Menschen darum gehen, den Abstand zum Ewigen zu überwinden und sich an Ihn selbst ‚anzuschmiegen‘. Dieser spirituelle Idealzustand kann mit dem der Kabbala entlehnten Begriff der Devequt (דבקות; Anschmiegung) beschrieben