Susanne Talabardon

Chassidismus


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und Israel steckt in großer Bedrängnis! Diese vielen Worte verkündete er und jeden einzelnen Gelehrten rief er beim Namen und er wich nicht vom Fenster, bis dass er sah, dass derjenige schon von seinem Bett aufgestanden war. Und zur ersten Stunde wurde die ganze Stadt erfüllt von den Stimmen derer, die Mischna, Sohar oder die Midraschim der Weisen studierten, oder von Psalmen und Propheten, von |33|Hymnen oder von Bitten um Erbarmen. (Aus einem Brief des Schlomo ben Chajim Meinsterl von Dresnitz; vgl. Avraham Ja’ari, Igg’rot, S. 205)

      Noch einen anderen Brauch pflegte der Chassid [Abraham Halevi Berukhim]: Er ging auf die Märkte und Straßen und verkündete die Bußumkehr. Und er versammelte Ansammlungen von Bußwilligen im Lehrhaus der Babylonier. Und dort sagte er ihnen: Was ihr von mir seht, das tut! Und er stieg in einen Sack hinein und gebot ihnen, ihn durch das ganze Lehrhaus zu ziehen, damit er gedemütigt würde und seinen [bösen] Trieb erniedrige. Danach gebot er, dass sie ihn mit Steinen steinigen sollten. Und er hatte dort Steine von anderthalb Litra Gewicht. Und sie steinigten ihn mit all diesen Steinen. Danach kam er aus dem Sack heraus und man bereitete ihm ein Bett aus Nesseln, die brannten auf dem Fleisch wie Feuer, die nennt man Bre“n-Nes’iln. Und er zog seine Kleidung aus und streckte sich nackt auf den Nesseln aus. Und er rollte auf ihm herum, bis dass sein Fleisch voll Pusteln war. (Schivché ha-Ar“i, Benayahu, Tol’dot, S. 226–227)

      Asketische PraktikenZu den rigorosen Praktiken, die von den obergaliläischen Kabbalisten bis in die östlichsten Ecken Europas vorgedrungen waren, gehörte das sogenannte Wochenfasten, bei dem man nur am Schabbat etwas anderes als ein wenig Brot und Wasser zu sich nahm, das todesmutige Ertragen von Schmerzen oder Kälte und schließlich die „Galut-Wanderung“. Bei letzterer handelte es sich um ein imitatives Nachvollziehen des Exils (גלות/Galut) der Schekhina. Wie die Schekhina, die Präsenz des Ewigen, seit der Zerstörung des Tempels gewissermaßen heimatlos auf Erden herumstreifte, so sollte der Fromme von Ort zu Ort ziehen, ohne – Schabbat und Festtage ausgenommen – länger als eine Nacht irgendwo zu verweilen.

      Ein Paar Beispiele hiervon, wovon ich selbst Augenzeuge war, werden hinreichend seyn, die Sache genugsam zu bestätigen. Ein wegen seiner Frömmigkeit damals bekannter jüdischer Gelehrter, Simon aus Lubtsch, der schon die Tschubath hakana (die Buße des Kana) ausgeübt hatte, welche darin besteht, daß er sechs Jahre täglich fastet, und alle Abend nichts von alledem, was von einem lebendigen Wesen herkömmt (Fleisch, Milchspeisen, Honig und dergl.), genießt, Golath [Galut], d.h. eine beständige Wanderung, wo man nicht zwey Tage an einem Ort bleiben darf, gehalten, und einen haarnen Sack auf dem bloßen Leib getragen hatte, glaubte noch nicht genug zur Befriedigung seines Gewissens getan zu haben, wenn er noch nicht Tschubath h[a]mischkal (die Buße des Abwägens), d.h. eine partikuläre, jeder Sünde proportionierten Buße, ausüben werde. Da er aber nach Berechnung gefunden hatte, daß die Anzahl seiner Sünden zu groß sey, als daß er sie auf diese Art abbüßen könnte, so ließ er sich einfallen, sich zu Tode zu hungern. Nachdem er schon einige Zeit auf diese Art zugebracht hatte, kam er auf seiner Wanderung an den Ort, wo mein Vater wohnte, und ging, ohne daß jemand im Hause etwas davon wußte, in die Scheune, wo er ganz ohnmächtig auf den Boden fiel. Mein Vater kam zufälligerweise in die Scheune und fand diesen Mann, der ihm schon längst bekannt war, mit einem Sohar in der Hand […] halb todt auf dem Boden liegen. […] Simon [der die wiederholten Bitten von Maimons Vater, doch |34|etwas zu essen, zurückwies] strengte alle seine Kräfte an, machte sich auf, ging aus der Scheune und endlich aus dem Dorfe. Als mein Vater abermals in die Scheune kam, und den Mann nicht mehr fand, lief er ihm nach und fand ihn nicht weit hinter dem Dorfe todt liegen. Die Sache wurde überall unter der Judenschaft bekannt, und Simon ward ein Heiliger. (Salomon Maimon’s Lebensgeschichte, S. 182–184)

      Das Studium esoterischer Schriften und das Gebet nach lurianischem Ritus in den Kloysen, insbesondere aber die asketischen Praktiken sorgten für eine Abgrenzung der Asketen von ihrer Umgebung, auch wenn sie selbst ihr Tun als spirituellen Dienst an der gesamten jüdischen Gemeinschaft interpretierten.

      3.3. Ba’alé Schem und die praktische Kabbala

      Während die meisten Kabbalisten den Weg asketischer Frömmigkeit und der Isolation gingen […], verbanden die Ba’alé Schem die Massen mit den zurückgezogen lebenden Chassidim. (Hundert, Jews in Poland, S. 142)

      Praktische KabbalaKabbalistische Traditionen verbreiteten sich jedoch nicht nur unter den Eliten in ihren abgeschlossenen Zirkeln und Kloysen. Durch die „praktische Kabbala“ (Kabbala Ma’assit/קבלה מעשית) kamen auch breitere Schichten der Bevölkerung in Kontakt mit ursprünglich esoterischen Denkmustern. Diese Entwicklung begann, in jeweils charakteristischen Formen, im Spanien des 15. Jahrhunderts (vgl. Josef della Reina, 1418–1472) und im Italien der Renaissance (vgl. Jochanan Alemanno, ca. 1435 bis nach 1504). Unter dem Einfluss der Verfolgung der jüdischen und muslimischen Minderheit (Spanien) bzw. der Wiederentdeckung spätantiker neoplatonischer und hermetischer Texte (Italien) kam es zu einer Aufwertung magischen Handelns innerhalb kabbalistischer Kreise. Von der harschen Kritik insbesondere an den magischen Versuchen della Reinas, den Messias durch magische Techniken herbei zu zwingen, blieb die Grundidee, kabbalistisches Wissen zur Einflussnahme auf göttliche Sphären zu nutzen, unbeschadet. Mosche Cordovero beispielsweise, kurzzeitig Lehrer und Mentor von Jitzchak Luria, hielt ebenso an ihr fest wie zahlreiche andere einflussreiche Mystiker.

      Ba’al SchemNatürlich sind etliche der ab dem 14. Jahrhundert in die Kabbala Ma’assit eingebundenen Verfahren – wie die Abwehr von Dämonen durch Amulette oder Medikationen, die magischen oder mantischen Beschwörungen höherer Mächte zum Zwecke der Rettung und Heilung – viel älter als die mittelalterliche Esoterik und stellen zudem kulturelle Universale dar. Die etwa seit dem 13. Jahrhundert in Zentraleuropa anzutreffenden Ba’alé Schem (sing.: Ba’al Schem/|35|בעל שם; Meister des Heiligen Namens) waren die Erben spätantiker mystischer Traditionen, welche ihre wirkmächtige Kraft unter anderem aus Meditationen von Heiligen Namen des Ewigen (Schemot/שמות) und den Buchstaben des hebräischen Alphabets bezogen. In der Forschung (vgl. Grözinger, Wundermann, S. 170–171) werden mitunter nicht weniger als sieben verschiedene Typen dieser Ba’alé Schem identifiziert, wie sie in der jüdischen Erzählliteratur sichtbar werden.

      Einfluss der lurianischen KabbalaSeit Ende des 17. Jahrhunderts entwickelte sich der Personenkreis, der sich regelmäßig mit ‚praktischer Kabbala‘ befasste, zu einem angesehenen, von der Bevölkerung intensiv nachgefragten Berufsstand und infolgedessen zu einem häufig anzutreffenden Phänomen. Die Anzahl der noch heute namentlich bekannten Ba’alé Schem begann ab jener Zeit signifikant zu steigen. Unter dem Einfluss der lurianischen Kabbala kam es außerdem zu einer Art Spiritualisierung dieser Profession, da der diagnostische Prozess wesentlich als eine prophetische Aufdeckung von individueller Sünde und Unreinheit verstanden wurde. Vorbild und Modell dieser Art der charismatisch begabten Retter und Heiler war Jitzchak Luria selbst, dessen außergewöhnliche Fähigkeiten von seinem Schüler Chajim Vital folgendermaßen beschrieben wurden:

      [Dies ist,] was ich tatsächlich mit meinen eigenen Augen sah: Wunderbare und wahrhafte Dinge sind es. Er wusste eine künftige Seele [aus den Oberen Gefilden] vor sein Antlitz herabzuziehen – sei es, von den Lebenden oder von den Abgeschiedenen, von den frühen oder von den späteren [Gelehrten]. Er befragte sie ganz nach seinem Willen über Erkenntnisse des Künftigen oder über Verborgenes der Tora. Auch offenbarte sich ihm Elija, der Prophet, sein Andenken sei zum Segen, und lehrte ihn. Ebenso kannte er sich mit den Buchstaben der Stirn [Metoposkopie] aus und mit der Lehre des Antlitzes [Physiognomie]. Oder mit den Lichtern, die es auf der Haut des menschlichen Körpers gibt. Oder mit den Lichtern in den Haaren. Und mit dem Zwitschern der Vögel. Und mit den Gesprächen der Palmen und Bäume und Kräuter. Und sogar mit dem Gespräch der unbelebten Materie, wie gesagt ist: ‚Ein Stein schreit aus der Mauer.‘ etc. (Hab 2,11a) Und mit dem Gespräch der Feuerflamme. Und der Flamme von Kohlefeuer. Er sah die Engel, die in der Welt alle Ankündigungen ankündigen – wie bekannt – und sprach mit ihnen. Und er war vertraut mit allen Kräutern und mit ihren wahrhaften Heilwirkungen. Und wie diese wäre noch vieles, was man nicht aufzählen kann. Man würde diese [Dinge] nicht glauben, wenn man sie erzählt bekommen würde – was aber meine Augen gesehen haben und nichts Fremdes, schrieb ich wahrhaftig. (Vital, Scha’ar Ru’ach Qodesch, S. 19)

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