es nicht wunder, dass Zaddikim mitunter in den höchsten Tönen gelobt werden. Ihre Verdienste sind höher einzuschätzen als diejenigen der Dienstengel (bSan 93a); nur ihretwegen hat die Welt Bestand (bJoma 38b). Auf Grundlage dieser Wertschätzung trifft der Babylonische Talmud denn auch Aussagen wie die folgende, die für die Konzepte des späteren osteuropäischen Chassidismus von großer Bedeutung sind:
Sagte R. Schmu’el bar Nachmani, sagte R. Jonatan: Was ist es, das geschrieben steht: ‚Spruch Davids, des Sohnes Jischais, Spruch des Starken, der hoch erhoben ward‘ [2 Sam 23,1]. Spruch Davids, des Sohnes Jischais: denn er erhebt das Joch der Bußumkehr. ‚Es sagte der Gott Israels, zu mir redete der Felsen Israels: Der über den Menschen Herrschende ist gerecht [oder: Ein Herrscher über Menschen ist ein Zaddik]; herrschend [in] der Gottesfurcht.‘ [2 Sam 23,3] Was ist es, das gesagt ist: Sagte der Gott Israels, zu mir sprach der Fels Israels’? ICH herrsche über den Menschen – aber wer herrscht über MICH? Der Zaddik! Denn ICH dekretiere ein Dekret und er hebt diese Worte [wörtlich: Namen] auf. (bMo’ed Qatan 16b)
2.3. Im mittelalterlichen Aschkenas
Chassidé AschkenasEine weitere Neufassung gewann der Begriff Chassid im Zentraleuropa (Aschkenas) des 12. und 13. Jahrhunderts. Eine Gruppe von Gelehrten, die Chassidé Aschkenas, entwickelte unter dem Eindruck der jüdischen Martyrologie im Gefolge der Kreuzzüge und in Reaktion auf christliche Frömmigkeitsbewegungen eine spezifische Ethik und Spiritualität. Einige herausragende Vertreter dieses Kreises, |21|Schmu’el ben Kalonymus he-Chassid (2. Hälfte des 12. Jh.), sein Sohn Jehuda he-Chassid (starb 1217) sowie dessen Schüler El’asar ben Jehuda ben Kalonymus (starb ca. 1230), entstammten der berühmten Kalonymus-Familie aus Lucca, die als wesentliche Mittlerin von Traditionen von Italien nach Deutschland gilt. Die Chassidé Aschkenas beeinflussten, wiewohl eine verhältnismäßig kleine Gruppierung, nicht nur die großen rheinländischen und süddeutschen Gemeinden, sondern auch die nordostfranzösischen Zentren jüdischen Lebens.
Schriften der Chassidé AschkenasSie schufen ein reiches Korpus an halachischen, ethischen und esoterischen Werken. Die bedeutendste unter den ethischen Schriften dürfte der Śefer Chassidim (ספר חסידים; Buch der Frommen) des Jehuda he-Chassid darstellen, der noch heute viel gelesen wird und höchst aufschlussreiche Einsichten in das jüdische Leben im hochmittelalterlichen Aschkenas vermittelt. Unter den halachischen Texten ragen der Śefer ha-Roqeach (ספר הרוקח) des El’asar von Worms sowie das Kompendium Or Saru’a (אור זרוע; Das aufgehende Licht) des Jitzchak ben Mosche von Wien (um 1180–1260), eines Schülers des El’asar, heraus. In ihren esoterischen Schriften – wie dem Śefer Śodé Rasajá (ספר סודי רזיא; Buch der verborgenen Geheimnisse) des El’asar von Worms – griffen sie auf teils sehr alte mystische Traditionen zurück.
Die Chassidé Aschkenas sahen sich als spirituelle Elite, der es oblag, die Gebote schärfer zu beachten, Seele und Geist reiner zu halten und die Gebets- und Bußpraxis mit höherem persönlichen und emotionalen Engagement umzusetzen, als es den einfachen oder unwilligen Juden möglich oder erwünscht erschien. Die Liebe zum Ewigen als dem Schöpfer der Welt sollte die gesamte Lebensführung durchdringen und es dem Bösen verunmöglichen, Zugriff auf den Chassid zu erlangen.
Gebets- und BußpraxisSeinen besonderen Ausdruck findet das Streben nach spiritueller Vervollkommnung in der Zuwendung zu jedem Detail der überlieferten Gebete: der Kawwana (כוונה; Ausrichtung, Intention). Seien es die Formen, Klänge, Zahlenwerte der Buchstaben oder die verwendeten Melodien – jedes einzelne Element des Gebetes bedurfte sorgfältiger Würdigung, da es schließlich als Kanal oder als Leiter in die himmlischen Sphären angesehen wurde. Im Unterschied zu vorgängigen Strömungen erfuhr auch die Bußpraxis bei den Chassidé Aschkenas entscheidende Aufwertung. Diese geht womöglich auf zeitgenössische christliche Einflüsse zurück. Sie unterschieden vier Grundformen der Reaktion auf eine verübte Sünde. Die bei weitem leichteste bestand darin, eine günstige Gelegenheit zu ähnlichem Treiben bewusst auszulassen. Für die härteste Variante, vorgesehen bei Vergehen, die der Tora zufolge als |22|todeswürdig anzusehen sind, musste sich der Penitent „Qualen, schwer wie der Tod“ unterziehen, um die Verletzung der himmlischen Sphäre zu sühnen.
AskeseIn Gebet, Studium der überlieferten Schriften und Buße bildete sich der Chassid zu einem von der Welt abgewandten Asketen heran, der nicht nach irdischen Gütern strebte, in Demut und Zurückhaltung jedwede Beleidigung und allerlei Spott stoisch ertrug und nicht auf seinem Recht bestand. Auch wenn es äußerlich nicht den Anschein hatte, so konnte der verachtete Fromme dennoch für sich in Anspruch nehmen, im Übermaß mit verborgenen Kräften und Kenntnissen ausgestattet zu sein. Tatsächlich verschafften ihm seine esoterischen (und durchaus auch magischen) Fähigkeiten das Bewusstsein dafür, der heimliche Herrscher der Welt zu sein.
Niemand ist ein Chassid, es sei denn er überwindet seine Eigenheiten [bRH 17b]. Wenn Leute zu ihm kommen, die gesündigt haben und ihn ungehörig behandelten, dann aber bereuen und von ihm Verzeihung erbitten […], auch wenn er dies sieht, dass es in seiner Macht steht, ihnen Böses anzutun oder ihnen Gleiches zu vergelten, dann verzeiht er ihnen von ganzem Herzen. Und er tut ihnen nicht übel – deshalb wird er ein Chassid genannt. […] Dies ist das Wesen der Chassidut: Man darf in keiner Sache nach dem strengen Sinn des Gesetzes handeln, wie gesagt ist (Ps 145,17): ‚Und ein Chassid in all seinen Taten‘. (Śefer Chassidim, § 11)
Wirkung der Chassidé AschkenasSowohl die beschriebene Bußpraxis als auch die besondere Aufmerksamkeit (Kawwana) für das Gebet sollten spätere Generationen von ‚Frommen‘ nachhaltig prägen. Kenntnisse über Lehre und Leben der Chassidé Aschkenas gelangten in die Provence und auf die Iberische Halbinsel, wo sie von denjenigen mystischen Zirkeln intensiv rezipiert wurden, die zu Trägern der Kabbala werden sollten. Auch auf mystisch gespeiste Strömungen des 16. und 17. Jahrhunderts übten die Frommen von Aschkenas großen Einfluss aus, so zum Beispiel auf führende Mitglieder der Gemeinschaft von Zefat (Safed) wie Mosche Cordovero (1522–1570), Schlomo Alkabez (1505–1584), Elija de Vidas (1518–1592), aber auch Jitzchak Luria (1534–1572). Gleiches gilt für den osteuropäischen Chassidismus und dessen unmittelbare Vorläufer, die sogenannten Chassidim alter Prägung („old-style-Hasidim“), von denen im Folgenden noch die Rede sein soll.
|23|2.4. In der philosophischen und ethischen Literatur des Mittelalters
Chassid und Zaddik in der philosophischen und ethischen LiteraturIn der ethischen und philosophischen Literatur des Hochmittelalters kann man einerseits die traditionelle Differenzierung beider Begriffe in durchschnittlich observante Juden (Zaddikim) und herausragend Fromme (Chassidim) beobachten. Andererseits werden beide Termini auch unspezifisch oder synonym gebraucht.
Bachja ibn Paquda (2. Hälfte des 11. Jh.) entwarf in seinem überaus populären ethischen Werk Chovot ha-Levavot (חובות הלבבות; Von den Pflichten des Herzens) einen Pfad zur persönlichen Vervollkommnung, der letztlich in die Liebe zum Ewigen und Gottesfurcht mündet. Wer durch moderate Askese und uneigennütziges Dienen am Ewigen und den Mitmenschen auf dem von Bachja beschriebenen Wege die größte Vollkommenheit erreicht, wird zumeist als Chassid charakterisiert, zuweilen jedoch auch als Zaddik bezeichnet. Mosche Maimonides (1135/38–1204) definiert in seinem großen talmudischen Kodex Mischné Tora (משנה תורה) die Angelegenheit folgendermaßen:
So soll ihn nur nach den Dingen gelüsten, die sein Körper nötig hat, und ohne die es ihm unmöglich ist [zu existieren]. In der Sache, da gesagt ist: ‚Ein Zaddik isst zur Sättigung seiner Seele‘ (Prov 13,25) Ebenso soll er in dem, was er [beruflich] tut, nur insoweit Anstrengung unternehmen, dass er dasjenige erreicht, dessen er zum Leben unmittelbar bedarf. In der Sache, da es heißt: ‚Das Wenige ist dem Zaddik gut‘ [Ps 37,16]. Ebenso verschließe er seine Hand nicht übermäßig und verschwende sein Vermögen nicht. Vielmehr gebe er Almosen entsprechend seiner Möglichkeit und verleihe dem Bedürftigen, wie es angemessen ist. Auch sei er nicht ausgelassen und [übermäßig] fröhlich, noch bekümmert und unzufrieden. Vielmehr freue er sich all seine Tage in Behagen und freundlicher Miene. So auch mit seinen übrigen Verhaltensweisen. Dieser Weg ist der Weg der Weisen. […] Wer es aber mit sich selbst sehr genau nimmt und etwas über die durchschnittliche