Susanne Talabardon

Chassidismus


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Licharz, Werner/Schmidt, Heinz (Hg.), Martin Buber (1878–1965). Internationales Symposium zum 20. Todestag. Bd. 1: Dialogik und Dialektik, Frankfurt/M. 1989, S. 281–294.

      Schatz-Uffenheimer, Rivka, Hasidism as Mysticism: Quietistic Elements in Eighteenth Century Hasidic Thought, Princeton, Jerusalem 1993, S. 15–51.

      Der Chassidismus, der im Ostmitteleuropa des 18. Jahrhunderts seine historischen Wurzeln hat, gehört heute zu den einflussreichsten jüdischen Strömungen. Die Zahl derjenigen, die sich zu einer seiner zahlreichen Gruppierungen zählen, steigt beständig. Die Vielfalt, Wandlungsfähigkeit und das gleichzeitige Beharrungsvermögen, die diesen haredischen (‚orthodoxen‘) Zweig des Judentums kennzeichnen, erstaunen so manchen Beobachter. Seit dem erstmaligen Auftreten seiner ungewöhnlichen sozialen Struktur und seiner auffälligen spirituellen Ausdrucksformen fragen sich sowohl Sympathisanten als auch Gegner, Zeitzeugen und Wissenschaftler, weshalb sich der osteuropäische Chassidismus so geschwind verbreitete und warum er bei weiten Teilen der jüdischen Bevölkerung Podoliens, Wolhyniens, Galiziens und Kleinpolens derartige Erfolge verzeichnete.

      1.1. Im Schatten der Aufklärung

      Die ersten, die sich dem Phänomen Chassidismus gewissermaßen als Außenbeobachter widmeten und eine westeuropäisch geprägte Öffentlichkeit davon in Kenntnis zu setzen suchten, waren Maskilim – von der jüdischen Aufklärung (השכלה/Haskala) geprägte Intellektuelle |6|wie Josef Perl (1773–1839) oder Isaak Ber Levinsohn (1788–1860). Josef Perl und Isaak LevinsohnFür diese Männer, die sich dem Kampf um die moderne Bildung und Emanzipation der osteuropäischen Juden verschrieben hatten, stellte sich der Chassidismus als Rückfall in äußerste Rückständigkeit und als ein Paradebeispiel für denjenigen Obskurantismus dar, den man unbedingt bekämpfen wollte. In Denkschriften an die christliche Obrigkeit – wie Perls „Uiber das Wesen der Sekte der Chassidim. Aus ihren eigenen Schriften gezogen“ (1816) – und in zahlreichen Satiren und Parodien (vgl. die דברי צדיקים/Divré Zaddiqim; „Worte der Gerechten“, die Perl gemeinsam mit Levinsohn verfasste) attackierten sie die sich weiter ausbreitende Bewegung.

      Heinrich GraetzEine ähnliche Haltung eignete auch dem großen Historiker Heinrich Graetz (1817–1891), der in seiner berühmten „Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ (11 Bände, 1853–1875) „das neue Chaßidäertum“ (Bd. 11, S. 95) geradezu als Trotzreaktion der ‚Altfrommen‘ gegen das vernünftige Denken Moses Mendelssohns (1729–1786) deutete.

      Die neue Sekte, eine Tochter der Finsternis, ist im Dunkel geboren und wirkt auch noch heute auf dunkeln Wegen fort. Nur wenige Umstände, die zu ihrer Entstehung und Fortpflanzung beigetragen haben, sind bekannt. Ihre ersten Begründer waren Israel aus Miedziboz (geb. 1698, starb 1. Juni 1759) und Beer aus Mizricz (geb. um 1700, starb 1772). Der erstere erhielt von seinen Verehrern und Gegnern in gleicher Weise den Beinamen […] Baal-Schem oder Baal Schemtob und in der damals beliebten Abkürzung Bescht. So unschön wie der Name Bescht, war das Wesen des Stifters und der Orden, den er ins Leben gerufen hat. (Graetz, ibid., S. 96; Hervorhebungen im Original)

      Simon DubnowEtwas differenzierter, aber dennoch von der aufklärerischen Gegnerschaft zu „Wunderglauben“ und „Phantasmen“ (Bd. 1, S. 23) bestimmt, beschrieb Simon Dubnow (1860–1941) in seiner „Geschichte des Chassidismus“ (Berlin 1931) das nämliche Phänomen. Das zweibändige Werk, während seines Berliner Exils vollendet, wird noch heute viel rezipiert. Es ist die erste Arbeit, die tatsächlich auf umfangreichem Quellenstudium fußt. Andererseits sah sich der Historiker Dubnow, der damaligen Interpretation von Wissenschaft folgend, in einer Doppelrolle als „Forscher und Richter“ (S. 12), was den Wert seiner Darstellung zuweilen beeinträchtigt. So nahm er den osteuropäischen Chassidismus als eine nach einigen hoffnungsfrohen Ansätzen degenerierte Unternehmung wahr. Während er den charismatischen Führungsgestalten (צדיקים/Zaddikim) der ersten Generationen noch kreative und innovative Ansätze zugestand, betrachtete er die Strömung ab etwa 1815 wegen des „Zaddikismus“, dem alle positiven Ansätze absorbierenden Kult um den Zaddik, als im Niedergang begriffen.

      |7|1.2. Sozial-ökonomisch geprägte Ursachenforschung

      Ein kollektiver Hang zum Obskurantismus konnte jedoch die Verbreitung des osteuropäischen Chassidismus nicht befriedigend erklären. Die Doyens seiner wissenschaftlichen Erforschung wie Simon Dubnow, Benzion Dinur (1884–1973) oder Raphael Mahler (1899–1977) interpretierten daher die Entstehung und den Erfolg des Chassidismus als ein Krisenphänomen. Dubnow erblickte im sozial-ökonomischen Niedergang der jüdischen Gemeinden innerhalb der polnischen Adelsrepublik im Gefolge der Chmielnicki-Massaker 1648/49 eine wesentliche Ursache für den Erfolg der chassidischen ‚Erweckung‘:

      Der Chassidismus stellt als Ganzes betrachtet eine der bedeutendsten und originellsten Erscheinungen nicht allein in der Geschichte des Judentums, sondern auch in der Entwicklungsgeschichte der Religionen überhaupt dar. […] Mit den Mitteln mächtiger seelischer Beeinflussung gelang es dem Chassidismus, den Typus eines Gläubigen zu schaffen, der die Innigkeit des Gefühls höher als die Werkheiligkeit, die Gottseligkeit und religiöse Inbrunst höher als Spekulation und Thorastudium stellte. […] Zugleich bot aber der Chassidismus ein Gegenmittel auch gegen die Not und Unterdrückung, die im jüdischen sozialen Leben herrschte […]. Zwar dachte der Chassidismus nicht im entferntesten daran und konnte auch nicht daran denken, die Entrechtung und Knechtung der Juden zu beseitigen, gleichwohl erreichte er kraft der von ihm ausgehenden psychischen Einwirkung, daß seine Anhänger für das Joch der Sklaverei und des Galuth [des Exils] weniger empfindlich wurden. (Dubnow, Geschichte, Bd. 1, S. 67–68; Hervorhebung im Original)

      Benzion DinurDer Zionist Benzion Dinur betrachtete den (vermeintlichen) Niedergang des polnischen Judentums hingegen eher als eine politische Führungskrise mit sozialen Auswirkungen. Das Scheitern der messianischen Hoffnungen, die sich auf Schabtai Zvi (1626–1676) gestützt hatten, sowie der Untergang der überregionalen jüdischen Selbstverwaltung (ועד ארבעת ארצות/Wa’ad Arba’at Arazot; Vier-Länder-Kongress) im Jahre 1764/65 hätten das Vertrauen in die Führungsschicht nachhaltig erschüttert. Der Chassidismus präsentierte sich ihm als eine Strömung, welche die messianischen Energien der jüdischen Bevölkerung und deren Erwartungen an die eigene Elite in neue Bahnen lenkte.

      Raphael MahlerAuch der (marxistisch geprägte) Raphael Mahler beschrieb jene osteuropäische Reformströmung als ursprünglich sozial orientierte Opposition, die den jüdischen Massen die Möglichkeit zum Widerstand gegen die verbreitete ökonomische Unterdrückung eröffnete. Erst nachdem sich die neue chassidische Führung mit ihren einstigen Gegnern (Mitnagg’dim), der traditionell-rabbinischen Elite, zusammengetan habe, um mit ihnen gemeinsam die Haskala zu |8|bekämpfen, habe der Chassidismus seine sozial-revolutionäre Ausprägung verloren (vgl. Hasidism and the Jewish Enlightenment).

      1.3. Die zweite Generation von Historikern des Chassidismus

      Die von Dubnow, Dinur und Mahler gebotene monokausale Erklärung für die Entstehung einer derart tiefgreifenden Reformströmung als Resultat einer sozial-ökonomisch bzw. politisch konnotierten Krise wurde durch eine zweite Generation von Gelehrten, die sich dem osteuropäischen Chassidismus widmeten, heftig kritisiert. Zu jenen Wissenschaftlern gehören an erster Stelle Jacob Katz, Jeschajahu Schachar (1935–1977), Schmu’el Ettinger und Israel Halperin (1910–1971).

      Jacob KatzJacob Katz (1904–1998) beschrieb in seiner einflussreichen Studie „Tradition and Crisis“ (erstmals im Jahre 1958 auf Hebräisch veröffentlicht) Chassidismus und Haskala als wesentliche Wendepunkte der traditionellen jüdischen Gesellschaft. Die Auffassung, der Chassidismus ließe sich auf einen wirtschaftlichen Niedergang oder auf die Unzufriedenheit der unterdrückten jüdischen Bevölkerungsmehrheit mit ihren Lebensumständen – also wesentlich auf äußere Umstände – zurückführen, könne einen so weit reichenden innerjüdischen Umbruch nicht erklären. Katz diagnostizierte eine Erosion traditioneller Strukturen im Innern des polnisch-litauischen Judentums, die er als eine Schwächung der Bindung des Individuums an kommunale Institutionen und deren Repräsentanten beschrieb. Allerdings, so müsse einschränkend