Susanne Talabardon

Chassidismus


Скачать книгу

des Chassidismus als solchem.

      Wir sehen uns daher zu dem Schluß gezwungen, daß die neue Bewegung des Chassidismus in der Tat dank bestimmter sozialer Umstände entstehen und auf der Grundlage früherer religiöser Veränderungen und Prozesse wachsen und gedeihen konnte, was ihre Inhalte und Werte, ihr Erscheinungsbild und ihre historische Entwicklung betrifft, jedoch etwas Neues darstellte. Alle vorherigen Entwicklungen sollten allenfalls als konstituierende oder stimulierende Elemente der Bewegung verstanden werden. […] Die chassidische Bewegung läßt sich am besten mittels eines Vergleichs mit ähnlichen geschichtlichen Erscheinungen verstehen, insbesondere mit den Ausbrüchen charismatischer Religiosität, deren Kraft und Autorität auf das Bewußtsein einer unmittelbaren Berührung mit der Sphäre des Göttlichen zurückgehen. (Katz, Tradition, S. 231)

      |9|Für Katz präsentierte sich der osteuropäische Chassidismus als eine spirituelle Revolution, die auf einem „Ausbruch“ an charismatischen Führungspersönlichkeiten basierte. Diese, die Zaddikim, hätten den bisher marginalisierten jüdischen Massen einen institutionellen Rahmen geboten, durch den sie Anteil an der spirituellen Nähe des Charismatikers zum Ewigen erlangten. Infolge dieser neuen Konstellation sei es insofern zu einer „doppelten Revolution“ gekommen, als dass die neuen religiösen Erfahrungen zu tiefgreifenden Änderungen der Sozialstruktur geführt hätten (S. 242–245).

      Schmu’el EttingerSchmu’el Ettinger (1919–1988) betonte in seinen zahlreichen Essays zum Thema (vgl. On the History of the Jews in Poland and Russia. Collected Essays, Jerusalem 1994) hingegen eher die Kontinuität und Kooperation zwischen den Zaddikim und dem kommunalen Establishment. Er vermochte in den Aktionen der chassidischen Führungspersönlichkeiten und ihrer Anhänger weder einen revolutionären Bruch, noch eine subversive, die traditionelle Gesellschaft unterminierende Absicht zu erkennen.

      1.4. Die Suche nach dem religionshistorischen Kontext des Chassidismus

      Die Zurückweisung monokausaler Erklärungsmuster für die Entstehung und den Erfolg des osteuropäischen Chassidismus lenkte die Aufmerksamkeit auf die spirituellen und theologischen Eigenheiten dieser komplexen jüdischen Strömung. Diese waren offensichtlich stärker in Betracht zu ziehen, als es in der frühen Phase ihrer Erforschung nötig schien.

      Wie schon aus den Erklärungsansätzen des Jacob Katz ersichtlich, verschiebt sich die Perspektive erheblich, sobald man die Entstehung des Chassidismus unter religionsgeschichtlichen oder theologischen Prämissen beobachtet.

      Martin Buber und Gershom ScholemDie ersten maßgeblichen wissenschaftlichen Versuche, den osteuropäischen Chassidismus primär unter dem Blickwinkel seines spirituellen Profils zu beschreiben, mündeten in eine heftige Auseinandersetzung zwischen Martin Buber (1878–1965) und Gershom Scholem (1897–1982) um die bestimmenden Charakteristika jener Bewegung. Buber meinte, vor allem in seinen theoretischen Schriften zum Thema, einen deutlichen Bruch zwischen der von ihm als „gnostisch“ apostrophierten Kabbala und dem Chassidismus wahrnehmen zu können. Scholem hingegen definierte die osteuropäische Bewegung als ebendies: als letzte Phase der des Öfteren gnostische Züge aufweisenden jüdischen Mystik. An jenen beiden einflussreichen Denkern lässt sich nachgerade idealtypisch |10|beobachten, wie methodische Zugangsweisen und inhaltliche Prämissen das Ergebnis einer Untersuchung präjudizieren.

      Buber näherte sich dem Chassidismus als „rezipierender Erbe“ (Grözinger, Chassidismus, S. 281), indem er sich gewissermaßen selbst in diese Geschichte hineinschrieb – Scholem sollte dies als „Neochassidismus“ kritisieren. Scholem hingegen untersuchte jene osteuropäische Strömung mit den kritischen Methoden eines Religionshistorikers und unterstellte der Position seines Kontrahenten Buber einen (wissenschaftlichen) Anspruch, den jener gar nicht erhoben hatte.

      Die Kontroverse, welche Bubers letzte Lebensjahre überschattete, ist forschungsgeschichtlich längst zugunsten Gershom Scholems entschieden. Insofern Martin Buber jedoch, vor allem für ein deutschsprachiges und mehrheitlich nichtjüdisches Publikum, noch immer als eine Art autoritativer Interpret des Chassidismus gilt, erscheinen einige Bemerkungen zu jenem Konflikt angezeigt.

      Martin BuberMartin Buber verbrachte seine frühen Jahre bei seinem Großvater Salomon Buber (1827–1906), dem berühmten Erforscher des rabbinischen Midrasch und Sammler von chassidischen Traditionen. Als Kind besuchte er mehrfach die kleine Stadt Sadagóra. Die prunkvolle Residenz der dortigen Zaddikim und das fürstliche Gepräge ihrer Bewohner befremdete ihn (vgl. Mein Weg, S. 183). Seine spätere Faszination für den Chassidismus dürfte Buber wesentlich westeuropäischen Impulsen verdanken, die er als Student in Wien, Leipzig, Zürich und Berlin empfing: Sie könnte mit der im deutschen säkularen Judentum entstandenen Sehnsucht nach ‚authentischem Judentum‘ zu tun haben, wie sie zur Jahrhundertwende deutlich wahrnehmbar war. Seine ‚Entdeckung‘ des Chassidismus stützt sich denn auch nicht auf Begegnungen mit ‚real existierenden‘ Anhängern der Strömung, sondern auf romantisierende Darstellungen wie die von Jitzchok Leib Perez (Ch’sidish, 1908; Folkstimlikhe geshikhten, 1909) oder Micha Josef Berdiczewsky (Die Seele der Chassidim, 1899), die im Chassidismus eine Rebellion gegen das traditionelle Establishment sahen.

      So erstaunt es nicht, dass Buber insbesondere die Erzählungen über die Zaddikim für die maßgebliche Quelle hielt, die das Wesen jener inspirierenden Strömung zum Ausdruck brachte. Zahlreiche seiner Werke zum Chassidismus sind daher ebendies: Nacherzählungen und Adaptionen von Legenden, wie er sie auswählte und durch das „Sieb“ seines Herzens rinnen ließ (Buber, Antwort, S. 632).

      Ich trage in mir das Blut und den Geist derer, die sie schufen, und aus Blut und Geist ist sie mir neu geworden. Ich stehe in der Kette der Erzähler, ein Ring zwischen den Ringen. Ich sage noch einmal die alte Geschichte, und |11|wenn sie neu klingt, so schlief das Neue in ihr schon damals, als sie zum erstenmal gesagt wurde. (Buber, Legende des Baalschem, S. II)

      Für Buber enthielten jene Erzählungen die Essenz des Chassidismus. Die umfangreichen und schwergewichtigen theoretischen Abhandlungen der Zaddikim waren seiner Ansicht nach zu sehr der Tradition verhaftet und spiegelten das wirklich Neue jener Strömung nicht:

      Weil dem so ist, weil der Chassidismus in erster Reihe nicht eine Kategorie der Lehre, sondern eine des Lebens bedeutet, ist unsere Hauptquelle zu seiner Erkenntnis seine Legende, und erst nach ihr kommt seine theoretische Literatur. Diese ist der Kommentar, jene der Text, wiewohl ein in äußerster Korruptheit überlieferter, in seiner Reinheit unwiederherstellbarer. Es ist töricht einzuwenden, die Legende übermittle uns nicht die Wirklichkeit des chassidischen Lebens. Natürlich ist die Legende keine Chronik, aber sie ist wahrer als die Chronik für den, der sie zu lesen versteht. (Buber, Die chassidische Botschaft, S. 35)

      Gershom ScholemScholem, dem der religionsphilosophische und autobiographische Zugriff Bubers natürlich nicht entgangen war, sah sich trotzdem genötigt, den älteren Kollegen zu attackieren – eben weil dessen begeistertes Publikum annahm, er präsentiere ihm den authentischen Chassidismus. Der Religionshistoriker Scholem widersprach dem „Zaddik von Heppenheim“ (Scholem über Buber) methodisch und inhaltlich. Die Legende sei keinesfalls der theoretischen Literatur vorzuziehen, schon allein deswegen nicht, weil der von Buber so genannte „Kommentar“ den Erzählungen zeitlich deutlich voraufgeht (Scholem, Martin Bubers Deutung des Chassidismus, S. 177).

      Wenn man indessen jene theologischen Abhandlungen, die Homilien und Kommentare der Zaddikim, einer Darstellung des Chassidismus zugrunde lege, gelange man notwendig zu einem völlig anderen Eindruck vom Wesen jener Bewegung:

      Offensichtlich betrachtete Buber diese Quellen als viel zu abhängig von der älteren kabbalistischen Literatur, um als echt chassidisch angesehen werden zu können. Und diese Abhängigkeit springt in der Tat in die Augen. Viele von ihnen, darunter einige der berühmtesten chassidischen Bücher, sind vollständig in der Sprache der Kabbala geschrieben, und es ist ein tiefliegendes Problem der Forschung, genau zu bestimmen, worin eigentlich ihre Ideen von denen ihrer Vorgänger abweichen. (Scholem, Deutung, S. 178–179)

      Folgerichtig sollte Scholem den osteuropäischen Chassidismus als „letztes Stadium“ der jüdischen Mystik beschreiben (Mystik, S. 356). Dem sich für Buber aus der Legende ergebenden zentralen Neuansatz, wonach der Hiatus zwischen der materialen