Susanne Talabardon

Chassidismus


Скачать книгу

die physische Wirklichkeit, auf die sich das Interesse der chassidischen Autoren richtete, sondern – wie ehedem – die Transzendenz, in die hinein sich die materiale Wirklichkeit letztlich auflöst.

      In manchen Punkten waren die beiden jedoch einer Meinung: Sie deuteten die chassidische Reform vor dem Hintergrund des gescheiterten Sabbatianismus als einen Versuch, jedweden akuten Messianismus zu unterdrücken (Buber) bzw. messianische Konzepte zu „neutralisieren“ (Scholem). Des Weiteren stimmten sie darin überein, dass ein wesentliches revolutionierendes Element des Chassidismus in seiner Gemeinschaftsbildung zu sehen ist. In den Worten Scholems:

      Was dem Chassidismus seine besondere Formung gegeben hat, war vor allem die Begründung einer religiösen Gemeinschaft […] In dem Moment, in dem der Mystiker aus seiner einsamen Erfahrung die Anregung und Berufung schöpfte, dieser Erfahrung im Leben seiner Gemeinde Dauer zu schaffen und zu dieser Gemeinde nun nicht in seinen Begriffen, sondern in den ihren zu sprechen unternahm, war der neue Ausgangspunkt gegeben, um den sich mystische Bewegung als soziales Phänomen kristallisieren konnte. […] Diese ganze Entwicklung findet ihren vornehmsten Ausdruck in der Geschlossenheit der individuellen chassidischen Heiligenfigur, die etwas durchaus Neues ist. Die Lehre ist hier ganz in Persönlichkeit verwandelt, und was dadurch an Rationalität verlorenging, wurde an Wirkungskraft gewonnen. (Scholem, Mystik, S. 375.377; Hervorhebungen im Original)

      Jeschajahu Tishby und Joseph WeissDie durch Buber und Scholem aufgeworfene Frage nach dem spirituellen proprium des Chassidismus beschäftigte auch die nächste Generation der Forscher – repräsentiert durch die Scholem-Schüler Jeschajahu Tishby (1908–1992), Joseph Weiss (1918–1969), Rivka Schatz-Uffenheimer (1927–1992) oder Joseph Dan (geb. 1935). Die Versuche – insbesondere Tishbys und Weiss’ – griffen den Ansatz Scholems auf, das Spezifische jener osteuropäischen Strömung in vergleichender Abgrenzung von ihren Vorläufern, wie der lurianischen Kabbala oder der Bewegung um Schabtai Zvi zu formulieren. Für Scholem und Weiss vollzog sich die Herausbildung chassidischer Positionen vor allem in der Auseinandersetzung mit dem gescheiterten Sabbatianismus, wobei insbesondere dessen akut-messianische Prägung „neutralisiert“ (Scholem) worden sei. Jeschajahu Tishby, der den Chassidismus in eine enge Verbindung mit dem Denken des Kabbalisten Mosche Chajim Luzzato (1707–1746) brachte, konnte dieser These nicht viel abgewinnen.

      Joseph Weiss und Rivka Schatz-UffenheimerInsbesondere im Werk der beiden Scholem-Schüler Weiß und Schatz-Uffenheimer zeichnete sich ein Trend ab, der die nachfolgenden |13|Forschungsanstrengungen prägen sollte: Beide wandten sich der Analyse einzelner chassidischer Meister, wie Dov Ber von Międzyrzecz (Weiss, Uffenheimer) oder Nachman von Brazlaw (Weiss), zu. Sie wollten durch eine methodische Untersuchung von deren Texten überhaupt erst die Voraussetzung für eine synthetisierende Darstellung der Gesamtströmung gewinnen. Darüber hinaus leisteten sie insofern Pionierarbeit, als dass sie ihren Blick auch auf spätere Exponenten des Chassidismus, wie Mordechai Josef Leiner von Iżbica (1800–1854), richteten. Nach den großen Überblicksdarstellungen wie derjenigen des Simon Dubnow hatten sich die Gelehrten nämlich Jahrzehnte lang vor allem mit den Gründungsvätern der Strömung befasst und deren weitere Entwicklung aus den Augen verloren.

      Gedalja Nigal und Joseph DanAuf das Konto dieser Generation von Wissenschaftler/innen gehen zudem die ersten kritischen Editionen bedeutender chassidischer Werke. Dazu gehören, wiederum, Rivka Schatz-Uffenheimer mit ihrer Ausgabe des Hauptwerks des Dov Ber (מגיד דבריו ליעקב/Maggid Devaraw le-Ja’aqov) oder Gedalja Nigal (geb. 1927), der sowohl den נועם אלימלך /No’am Elimelekh des Elimelech von Leżajsk als auch zahlreiche bedeutende Sammlungen von chassidischen Erzählungen edierte. Die nach dem heftigen Streit zwischen Buber und Scholem gewissermaßen in Turbulenzen geratene Legendenliteratur erfuhr durch Gedalja Nigal (הסיפרת החסידית/Ha-Śipporet ha-chassidit, Jerusalem 1981) und Josef Dan ihre erste wissenschaftliche Würdigung. Insbesondere Dans Werke zur chassidischen ‚Novelle‘ (הנובילה החסידית/Ha-Novela ha-Chassidit, Jerusalem 1966) und zur Erzählung (הסיפור החסידי/Ha-Śippur ha-Chassidi, Jerusalem 1975) legten die Basis künftiger Forschung zum Thema.

      1.5. Die gegenwärtige Forschungslandschaft

      Der deutlich sichtbare Graben zwischen historischer und religionswissenschaftlicher Betrachtung des osteuropäischen Chassidismus hat sich trotz einiger Interferenzen und beiderseitiger Annäherungsbemühungen noch immer nicht geschlossen. Die einstmaligen Antagonismen zwischen beiden Forschungsfeldern sind jedoch überwunden.

      Moshe Rosman und Gershon D. HundertDie bislang jüngste Phase der historischen Rückfrage nach den Ursachen des Chassidismus wurde wesentlich inspiriert durch das Ende des Kalten Krieges, da es westlichen Forschern möglich wurde, in vormals unerreichbare Archive der osteuropäischen Welt zu gelangen. Autoren wie Moshe Rosman (geb. 1949) oder Gershon D. Hundert (geb. 1946) konnten aufgrund der veränderten |14|Quellenlage zeigen, dass der sozial-ökonomische Niedergang der jüdischen Gemeinschaft nach den Chmielnicki-Massakern zur Zeit der Entstehung des Chassidismus längst überwunden war. Zudem verwarfen sie den Ansatz, die Protagonisten jener Strömung als Volkshelden zu zeichnen, die etwa aus den Reihen der verachteten jüdischen Massen emporgewachsen wären. Die Zaddikim gehörten vielmehr – wie ihre Gegner – der traditionell gebildeten gesellschaftlichen Elite an. Die sozial-romantischen Krisentheorien der ersten Forschergeneration können somit als widerlegt gelten.

      Bereits die ersten wissenschaftlichen Darstellungen des Chassidismus konzentrierten sich zumeist auf dessen frühe Entwicklung; es dominierte die Auseinandersetzung mit dessen Gründungsfiguren wie dem Ba’al Schem Tov oder Dov Ber von Międzyrzecz. Umfassende historiographische oder religionsphänomenologische Werke – wie beispielsweise dasjenige Dubnows – waren die Ausnahme. In der gegenwärtigen Forschungslandschaft hat sich dieser Trend noch verstärkt. Sowohl im eher ‚historisch‘ arbeitenden, als auch im ‚religionswissenschaftlich‘ ausgerichteten Lager (deren Grenzen derzeit nicht mehr so strikt gezogen werden wie ehedem) versucht man sich durch Fall- und Regionalstudien sukzessive eine valide Basis für eine irgendwann einmal neu zu beginnende Gesamtdarstellung des überaus vielfältigen Phänomens zu erarbeiten. Einblicke in den gesamten Stand der Dinge lassen sich derzeit am ehesten durch Sammelbände zum Thema, wie dem von Ada Rapoport-Albert edierten ‚Hasidism Reappraised‘ gewinnen.

      Gegenwärtige ForschungsfelderDie Erforschung des osteuropäischen Chassidismus hat sich vor allem in Israel, den USA und Großbritannien zu einem der innovativsten Bereiche der jüdischen (Religions-)Geschichte entwickelt. Vom sich rapide vergrößernden Kreis von interessanten Forschungsfeldern seien exemplarisch die folgenden genannt, die derzeit auch einem breiteren Publikum zugänglich sind:



|15|Historischer Kontext; Wirtschafts- und Sozialgeschichte Dynner, Men of Silk; Hundert, Jews in Poland; Rosman, Founder of Hasidism.
Wichtige Quellen in Übersetzung Dan, Teachings (Anthologie); Grözinger, Geschichten; Green, Fire (Anthologie); Green, Language; Green, Menahem Mendel; Lamm, Religious Thought (umfassende Anthologie); Mark, Scroll of Secrets.
Einführungen und (umfangreiche) Lexikonartikel Assaf, Hasidism; Elior, Mystical Origins; Idel, Hasidism.
Literaturgeschichte (chassidische Genres, Druckgeschichte) Gries, Book; Bartal, Imprint; Nigal, Hasidic Tale; Rapoport-Albert, Hagiography.
Chassidismus und konkurrierende Strömungen Etkes, Gaon; Nadler, Faith; Wilensky, Polemics; Wodziński, Haskalah and Hasidism.
Früher Chassidismus Etkes, Ba’al Schem Tov; Schatz-Uffenheimer, Hasidism [Dov Ber]; Dresner, The Zaddik [Jakob Josef].