Susanne Talabardon

Chassidismus


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Die in jenen Chavurot gepflogene Frömmigkeit verbreitete sich durch ihre Hanhagot (הנהגות), schriftliche Ordnungen, die oft von den Safeder Meistern wie Mosche Cordovero oder Abraham Galante (starb 1560) persönlich |28|verfasst worden waren. Mittels der zahlreichen durch Cordovero oder Luria inspirierten ethischen Werke beeinflusste die Gemeinschaft von Safed die ab dem 17. Jahrhundert zahlreich entstehenden kabbalistischen Zirkel in Zentral- und Osteuropa.

      Die Gelehrten des obergaliläischen Zefat schufen als Exponenten einer kabbalistisch inspirierten Gemeinschaft Denkmodelle und Lebensformen, die im osteuropäischen Chassidismus aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. Dazu gehören unter anderem Konzepte zur Einbeziehung einfacher Gläubiger in das Gefüge einer komplexen Spiritualität. So vertraten sowohl Schlomo Alkabez wie auch sein Schüler Mosche Cordovero die Auffassung, ein Schüler oder einfacher Mensch könne sich an seinen Lehrer oder einen Gelehrten heften und dadurch einen spirituellen Aufstieg erfahren (z.B. Cordovero, Schi’ur Qoma, fol. 85b–86a; vgl. Sack, Ijjun, S. 226–231). Die chassidischen Meister sollten dies sukzessive zu einer Lehre der normativen Mittlerfunktion des Zaddik ausbauen und transformieren.

       [Zum Inhalt]

      |29|3. Die Vorgeschichte: Jitzchak Luria und die Chassidim ‚alter Schule‘

      Etkes, Immanuel, The Besht: Magician, Mystic, and Leader, Hanover, London 2005, S. 7–45.

      Grözinger, Karl Erich, Wundermann, Helfer und Fürsprecher. Eine Typologie des Ba’al Schem in aschkenasisch-jüdischen Volkserzählungen, in: Idel, Moshe/Grafton, Anthony (Hg.), Der Magus – Seine Ursprünge und seine Geschichte in verschiedenen Kulturen, Berlin 2001, S. 167–192.

      Hundert, Gershon D., Jews in Poland-Lithuania in the Eighteenth Century: A Genealogy of Modernity, Berkeley, Los Angeles 2006.

      Idel, Moshe, Hasidism: Between Ecstasy and Magic, Albany 1995.

      Ders., Jewish Magic from the Renaissance Period to Early Hasidism, in: Neusner, Jacob u.a. (Hg.), Religion, Science, and Magic: In Concert and in Conflict, New York, Oxford 1989, S. 82–117.

      Nigal, Gedalyahu, Magic, Mysticism, and Hasidism: The Supernatural in Jewish Thought, Northvale 1994.

      Der osteuropäische Chassidismus speist sich wesentlich aus Impulsen, die er aus der Lehre und der gelebten Spiritualität der kabbalistischen Gemeinschaft von Zefat empfing. Die Kunde von der neuen, faszinierenden Form der Kabbala verbreitete sich etwa ab Mitte des 17. Jahrhunderts in Europa und dem Osmanischen Reich. Zunächst geschah dies in der Form von Erzählungen über Jitzchak Luria und seinen Schülerkreis. Ein sehr früher dieser zunehmend hagiographisch gefärbten Berichte geht auf den böhmischen Juden Schlomo ben Chajim Meinsterl von Dresnitz zurück, der im Jahre 1602 nach Zefat emigrierte und zwischen 1607 und 1609 vier umfangreiche Briefe in die alte Heimat sandte. In ihnen teilte er seine Erkenntnisse über das wundersame Wirken Lurias mit. Später wurden sie als Schivché ha-Ar“i (שבחי האר״י; Preisungen des Ar“i) kopiert und gedruckt.

      3.1. Die Verbreitung der lurianischen Kabbala

      Verbreitung der Lehren LuriasIn der Folgezeit verfassten Mitglieder des Safeder Schülerkreises Darstellungen der Konzepte Cordoveros und Lurias. Zu diesen gehören die Werke Chajim Vitals, Joseph ibn Tabuls (geb. um 1545) oder Israel Sarugs (um 1600). Obwohl Luria, mindestens nach Auskunft Chajim Vitals, die Weitergabe seiner Lehre untersagt haben soll, fand diese bald größere Verbreitung als jedes andere kabbalistische System zuvor. Die Produktion lurianisch inspirierter |30|Werke explodierte ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geradezu: Enzyklopädisch angelegte Neue kabbalistische LiteraturWerke, Sammlungen von Homilien, Kommentare zu den Gebeten, ethische Schriften (מוסר/Mussar) und Ratgeberliteratur (הנהגות/Hanhagot) konfrontierten die jüdische Leserschaft mit Safeder Theorie und Praxis, wie sie von zeitgenössischen Autoren verstanden und auf deren kulturelle Kontexte angewendet wurde.

      Als paradigmatisch für jene Literatur können die Sch’né Luchot ha-Berit (שני לוחות הברית) des Jesaja Horowitz (1565–1630) gelten. Das erstmals im Jahre 1649 gedruckte enzyklopädische Werk enthielt kabbalistisch inspirierte Kommentare zur Tora ebenso wie Homilien, Traktate zu ethischen Themen, Erklärungen zur spirituellen Bedeutung von Geboten, Gebetstexten und Ritualen. Es übte einen immensen Einfluss auf die gelehrten Eliten Europas aus.

      Das Eindringen kabbalistischer Konzepte in breitere Schichten der Bevölkerung verursachte eine tiefgreifende Veränderung des spirituellen Wertesystems. Jede Einzelheit der tradierten Riten und Gebote erlangte durch ihre Verbindung mit den umfassenden kosmologischen und anthropologischen Konzepten quasi universale Bedeutung. Wer mit der passenden Ausrichtung und Konzentration (Kawwana) an die Umsetzung der Liturgie, Bräuche und Vorschriften ging, konnte sich deren Wirkung auf die himmlischen Sphären sicher sein. Zugleich entwickelten bereits der Zirkel von Zefat und später seine Multiplikatoren (wie eben Horowitz) neue, kabbalistisch inspirierte Rituale und Gebrauchstexte, die das jüdische Leben prägen und verändern sollten.

      Lurianisch inspirierte KabbalistenkreiseIn vielen Orten Zentral- und Osteuropas, wie zum Beispiel in Brody, Ostróg, Opatów, Brzesc Litewski (Brest-Litowsk), Lemberg oder Wilna, bildeten sich kleine kabbalistische Zirkel, deren Mitglieder sich als B’né Alija (בני עליה) oder als Chassidim bezeichneten (vgl. Hundert, Jews in Poland, S. 120). Sie versammelten sich in abgesonderten Räumen, sogenannten Kloysen, zum Gebet nach sefardischem Ritus oder zum Studium kabbalistischer Texte. In bewusster Abgrenzung von ihrer aschkenasischen Umgebung verwendeten sie das Gebetbuch Jitzchak Lurias (נוסח האר״י/Nusach ha-Ar“i) und kehrten somit ihrer liturgischen Heimat gewissermaßen den Rücken.

      Abb. 2: Jüdische Gemeinden in Polen-Litauen im Bereich des Vier-Länder-Wa’ad

      |32|3.2. Die Übernahme von Riten der Gemeinschaft von Zefat

      Neue RitenMit gleicher Hingabe griffen jene Chassidim auch die erwähnten, in Zefat neu entwickelten Bräuche auf, was letztlich zu einer Vertiefung der Unterschiede zwischen ihnen und der traditionell orientierten Mehrheit in Zentraleuropa führte. So bevorzugten sie, wie die Anhänger Lurias, das Tragen weißer Kleidung am Schabbat. Die dritte Mahlzeit des Schabbat (סעודה שלישית/Śe’uda Sch’lischit; vgl. Weiß, Circle, S. 31–34), im Norden Europas wegen der des Winters früh hereinbrechenden Dunkelheit oft kaum rituell elaboriert, sowie das Essen direkt nach dem Abschluss des Schabbat, die Melawé Malka (מלווה מלכה), erfuhren bei ihnen entscheidende Aufwertung. Hinsichtlich der Kaschrut, insbesondere bei der Schächtung von Tieren, übten sie überaus genaue Observanz. Um sicher zu gehen, dass bei der Schlachtung tatsächlich nur geschnitten und nicht, wegen etwaig schartiger Geräte, auch „gerissen“ wurde, verwendeten sie ausschließlich sogenannte „überscharfe“ Messer. Die Zaddikim um den Ba’al Schem Tov und dessen Nachfolger behielten diese Praxis bei.

      BußpraxisNeben den besonderen Riten in Gebet und den neuen Bräuchen während der Festtage zeichneten sich die Frommen lurianischer Prägung durch zahlreiche und intensiv geübte Bußpraktiken aus. Derlei Phänomene waren in elitären und esoterischen jüdischen Gruppen seit dem Mittelalter häufiger zu beobachten: Man denke nur an den ausgefeilten Bußkatalog der Chassidé Aschkenas (vgl. S. 21–22). Nach dem Untergang des Judentums auf der Iberischen Halbinsel und den massenhaften Konversionen der dortigen Bevölkerung zum Christentum wandten sich viele Juden mit großer Hingabe asketischen Übungen zu. Insbesondere an der Gemeinschaft von Zefat lässt sich ein von Umkehr und Reinigung geprägtes spirituelles Leben geradezu idealtypisch verfolgen.

      An jedem Tag, drei Stunden vor Anbruch des Tages, begaben sich die Gemeinschaften der Erwählten in die Synagogen und lernten dort in Abgeschiedenheit. Einer, der dort in Zefat war, möge es bald erbaut und errichtet werden in unseren Tagen, dessen Name war der Herr und Meister, Herr Abraham Halevi, sein Andenken sei zum Segen. […] Jedes Mal zu Mitternacht stand er auf