Die Bibel lehren und lernen (Die Bibel als Bildungsgegenstand)
Die Bibel kann zunächst in einer eher bildungstheoretischen Perspektive ein Gegenstand von Lernprozessen sein. Hierbei kann man ihre Entstehungsgeschichte, die Kanonisierung, Wirkungs- und Übersetzungsgeschichte oder auch Verwendungsweise in den Blick nehmen. Dies kann allerdings kaum losgelöst von ihren Inhalten, das heißt, ihren Erzählungen und Themen geschehen. Man muss die Geschichten um David oder Johannes den Täufer erst einmal kennen, um entsprechend auch Kunstwerke wie Michelangelos ‚David‘ oder die Johannes-Darstellung in Grünewalds Isenheimer Altar in ihrer Tiefe zu verstehen. Die Josefserzählung von Thomas Mann wird ohne Kenntnis der biblischen Josefsgeschichte kaum umfassend erschlossen werden können.
Die abendländische Kulturgeschichte kann über weite Strecken als eine Rezeptionsgeschichte der Bibel betrachtet werden. Aufgabe einer Bibeldidaktik ist es hierbei, zentrale und wirkmächtige Inhalte der Bibel zu bestimmen, die zu kennen, zum Bildungsgut unserer Kultur zählt. Was muss man über die Bibel wissen, welche repräsentative Auswahl an Texten gilt es zu kennen?
Ein solcher ‚Bildungskanon im Kanon‘ wird durch Lehrpläne oder Kindergottesdienst-Strukturen immer schon gegeben, aber selten reflektiert. Durch |2|die offene Formulierung der Bildungsstandards werden zwar einzelne Texte und Themenfelder nicht mehr en detail festgelegt, umso mehr müssen aber ein Schulcurriculum oder eine einzelne Lehrkraft Entscheidungen über die ‚basic needs‘ des Bibelunterrichts treffen.
Mit der Bibel lehren und lernen (Die Bibel als Lehrmedium)
Man kann es sich in der westlichen Industriegesellschaft kaum vorstellen, dass das Buch der Bücher auch heute noch als Lehrbuch taugt. So wird die Bibel z.B. als ‚Lesebuch‘ in Alphabetisierungskursen in Indonesien[1] eingesetzt. Die Bibel als Lehrmedium hat aber eine lange Tradition. Bildung wurde (und wird) in bestimmten Kreisen des Judentums mit dem Tora-Studium identifiziert. Auch in mittelalterlichen Lateinschulen in Europa wurde anhand der Bibel Sprachlehre von Latein und Griechisch betrieben. Beim Katechismuslernen oder dem Schulsystem der Franckeschen Stiftungen spielte die Bibel auch als Unterrichtsmedium eine zentrale Rolle. Daneben hat die Bibelübersetzung Luthers in hohem Maße die Herausbildung der deutschen Hochsprache beeinflusst. Die Bibelübersetzung wurde zum Lehrmedium der Spracherziehung. Dies gilt auch heute noch in einem weiteren Sinn, indem durch die Bibel religiöse Sprachkompetenz entwickelt, ja erst ermöglicht wird.[2] Noch grundsätzlicher gilt, dass gerade auch die mediale Verfasstheit der Bibel Lernprozesse anregt: Die Gattung ‚Parabel‘ zum Beispiel kann zum gleichnishaften Sprechen und Denken führen, die Viergestalt des Evangeliums zur pluriformen Rede von Gott ermutigen, die intertextuelle Bezugnahme des NTs auf die hebräische Bibel die Referenzialität auf Prätexte grundlegen. Wir nennen diese Entsprechung zwischen Textmerkmalen und didaktischer Umsetzung die „mimetische Bibeldidaktik“[3]. Nach Grethlein soll die Doppelgestalt des Evangeliums als „Übertragungsmedium der personalen Kommunikation und (als) Speichermedium der apersonalen Bücher“[4] auch |3|didaktisch zur Entfaltung kommen, was etwa durch einen „kommunikative(n) Umgang mit der Bibel“[5] als personale Interaktion geschehe.
Doch auch jenseits einer eher binnenreligiösen Bildung können mit der Bibel Lernprozesse ausgelöst werden:[6] Das genaue und kritische Bibellesen hat das kritische Denken der europäischen Geistesgeschichte maßgeblich beeinflusst, wie anhand der epochalen Umbrüche von Reformation und Aufklärung unschwer nachvollziehbar ist. Auch heute bergen das „prophetisch-kritische“ sowie das „kritisch-utopische“[7] Potenzial der biblischen Texte Chancen der kritischen Wahrnehmung der bestehenden Welt, sowie der Entfaltung visionärer Gegenwelten, so dass gerade die Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung im Lernprozess akzentuiert werden. Unzweifelhaft hat sich die wissenschaftliche Disziplin der Hermeneutik aus dem Bibelverstehen heraus entwickelt. Die Bedingungen und Möglichkeiten der Verstehenslehre wurden anhand der Bibellektüre gewonnen, man denke nur an Vorreiter der Hermeneutik wie Chladenius, Dannhauer oder Schleiermacher.[8] Entsprechend kann durch Lernen mit der Bibel ‚hermeneutische Kompetenz‘ erworben werden, die ermöglicht, „das historisch und theologisch exemplarisch Erlernte auf andere Textzeugnisse und Zusammenhänge (zu) übertragen“.[9] Die Beispiele ließen sich reichlich vermehren, wie etwa Theißen gezeigt hat, der den Beitrag der Bibel sogar umfassend „zur Erschließung der |4|Wirklichkeit in Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften“[10] reflektiert. Nicht nur die Inhalte der Bibel werden somit zum Lerngegenstand, vielmehr regt die Bibel auch als Medium Lern- und Bildungsprozesse an.
Durch die Bibel lehren und lernen
(Die Bibel als Katalysator umfassenden Lernens)
„Leben zu lernen ist der Endzweck aller Auferziehung“.[11] Dieses pädagogische Grundbekenntnis Pestalozzis lässt sich ebenso auf die Bibel übertragen.[12]
In der Diktion Luthers lautet das so: Die Bibel „enthält nicht Lesewort (…), sondern eitel Lebewort (…), die nicht zum speculiren und hoch zu tichten sondern zum leben und thun dargesetzt sind“.[13] Das Lernen mit der Bibel erschöpft sich nicht in einer Zur-Kenntnisnahme von Inhalten oder einer medialen Inspiration, sondern schließt auch einen umfassenderen Lernprozess im Blick auf das Selbst- und Weltverständnis ein. Die Beschäftigung mit der Bibel kann dann im gelingenden Fall auch zur Lebensorientierung und -bewältigung im Horizont der Gotteserfahrung beitragen.[14]
Bereits das Konzept einer ‚Lebenswelthermeneutik‘ reduziert das Verstehen eines Textes nicht auf das Aufdecken einer intentio auctoris oder intentio operis, |5|die historische oder objektivierende Distanz zwischen dem Gegenstand und dem verstehenden Subjekt schaffen. Verstehen ist nicht bloßes Decodieren eines externen Sinns. Verstehen bedeutet mit Ricœur vor allem auch „Sich verstehen vor dem Text“.[15] Auf diese Weise kann der Lernprozess mit der Bibel zur veränderten Selbst- und Weltsicht[16] sowie zu neuen Handlungsmöglichkeiten führen. Lebensbewältigung kann gemäß biblischer Anthropologie und Soziallehre aber kein einzelnes Individuum für sich allein erreichen. Der Mensch ist eingebunden in eine Gemeinschaft mit anderen. Auch die Lernprozesse mit der Bibel vollziehen sich in Gemeinschaft, im kollektiven Erinnern und Orientieren und in der gemeinschaftlichen Suche nach Sinn und Wahrheit. Dies gilt auf unterschiedlichen Ebenen, sei es in kleinen Lerngruppen wie Schulklasse oder Konfirmandengruppe, in Bibelkreisen von Gemeinde und Altenheim, aber ebenso auch auf der Ebene der Wissenschaften an der Universität. Bibeldidaktik kann so gesehen auch einen Beitrag zum „Orientierungswissen“[17] der Geisteswissenschaften leisten.
Lebensorientierung und schon gar -bewältigung schließt im Sinne der biblischen Botschaft jedoch immer schon das ‚extra nos‘ mit ein. Man kann Lebensgewinn nicht ‚machen‘ oder anerziehen. Die grundsätzliche Unverfügbarkeit von gelingenden Lernprozessen kann dann im Blick auf die Bibeldidaktik als Wirken des Heiligen Geistes oder als Geschenk von Hoffnung und Glauben im Lernprozess mit der Bibel beschrieben werden. Wenn biblisches Lernen Identitätsbildung und Lebensbewältigung ermöglicht, dann schließt das deshalb u.E. eine theologische Dimension immer schon mit ein.[18] Erst jetzt, im Prozess der aneignenden Sinnfindung, wird die Bibel zum ‚lebendigen Wort Gottes‘, das sich vom toten Buchstaben eines vergangenen Kulturguts abhebt. Gleichwohl muss dies nicht bedeuten, dass die Bibeldidaktik erst dann zum Ziel kommt, |6|wenn die „Schüler/innen zu Christen“[19] werden. Der Lebensgewinn kann auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlicher Reichweite und Graden an Bewusstsein einsetzen. Es ist jedoch die im engeren Sinn theologische Dimension, d.h. die ökumenische Überzeugung, dass die Bibel wirklich bleibend etwas mit Gott zu tun hat, die den Lebensgewinn des biblischen Lernens von jedem anderen Lernen mit Literatur unterscheidet.
Die drei Ebenen des biblischen Lernens hängen eng zusammen. Nehmen wir als Beispiel das Erzählen. Die großen „Meistererzählungen“[20] der Bibel von der Geschichte Gottes mit dem Volk Israel und die Jesusgeschichte ebenso wie kostbare Erzählminiaturen gilt es, zunächst als Bildungsgut kennen zu lernen und etwa mit narratologischen Methoden zu analysieren oder ihren historiographischen Wert als Erinnerungsmedien wahrzunehmen.[21] Das Medium biblischen Erzählens ermöglicht und fördert wiederum eigene Erzählkompetenz, mit der Vergangenheit erinnert und Gegenwart