Perioden von je 20 Jahren in Europa. Verändert nach Hulme et al. (2009 b).
Es ist eigentlich nicht erstaunlich, dass die meisten nicht-einheimischen Arten am neuen Standort nicht überleben können oder nicht als invasive Art in Erscheinung treten, das heißt, zahlen- und einflussmäßig unauffällig bleiben. Der Unterschied zwischen ursprünglichem Lebensraum, meist in einem anderen Kontinent, und dem neuen Gebiet ist oft groß. Außerdem erfolgt zumindest die unbeabsichtigte Verschleppung ohne Auswahlverfahren, also ohne «Eignungstest» für den neuen Lebensraum. Es sind daher viele Arten betroffen, für die der neue Lebensraum ungeeignet ist. Die Tatsache, dass einige eingeschleppten Arten nicht sofort invasiv werden, ist nur auf den ersten Blick beruhigend. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass viele dieser Arten nach einer gewissen Verzögerungsphase invasiv werden können. Offensichtlich passen sie sich während einiger Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte an die neuen Lebensbedingungen an. Im Invasionsprozess lassen sich daher verschiedene Phasen unterscheiden (Abb. 3).
Abb. 3: Bei einem Invasionsprozess lassen sich vier Phasen mit verschiedener Wachstumsgeschwindigkeit unterscheiden.
Phase 1. Einfuhr einer nicht-einheimischen Art. In der Regel handelt es sich nur um wenige Individuen, sodass diese nur eine geringe Vermehrungsrate haben. Ihre Nachkommen haben noch keinen Einfluss auf einheimische Arten, und von ihnen geht noch keine Bedrohung aus.
Phase 2. Etablierung und Anpassung an den neuen Lebensraum. Nach wie vor ist die Individuenzahl gering, genügt aber, um eine langsam zunehmende Populationsdichte zu gewährleisten. Der Einfluss auf einheimische Arten ist ebenfalls gering, wirtschaftliche Schäden sind unbedeutend. Diese Eingewöhnungsphase der nicht-einheimischen Art ist je nach Situation verschieden und in ihrer Dauer schwierig abzuschätzen. Nach einer Analyse in Norddeutschland kann man von durchschnittlich 170 Jahren für Baumarten, 131 Jahren für Sträucher, 68 Jahren für ausdauernde Stauden und 32 Jahren für ein- oder zweijährige Arten ausgehen (Kowarik 2003). Auffällig ist die große Streuung solcher Daten–es gibt Baumarten, die über 400 Jahre unauffällig sind, während andere in 29 Jahren invasiv wurden. Für die Tropen gehen wir heute generell von viel kürzeren Zeiträumen als für die gemäßigten Breiten aus. Für Tiere sind Prognosen noch schwieriger. Viele Säugetiere weisen in Europa keine nennenswerte Eingewöhnungsphase und somit Zeitverzögerung auf, sondern vermehren sich von Anfang an maximal. Daneben gibt es Arten wie die Kanadagans (Branta canadensis), die in England 300 Jahre eher unauffällig war und dann erst invasiv wurde, während sie in Schweden diese Phase innerhalb von 40 Jahren erreichte. Diese Eingewöhnungsphase bzw. Zeitverzögerung ist also weniger ein brauchbares Prognoseinstrument als eine generelle Warnung: Daraus, dass eine nicht-einheimische Art Jahrzehnte oder Jahrhunderte unauffällig und selten blieb, kann man nichts ableiten. Die Situation kann sich morgen ändern, und in einem anderen Lebensraum oder für eine andere Art kann ohnehin alles ganz anders sein.
Phase 3. Invasion. In einem immer größeren Gebiet findet ein starkes Populationswachstum statt, das zur Ausbreitung in immer neue, noch nicht besiedelte Gebiete führt. Diese Phase wird als biologische Invasion bezeichnet. Der Einfluss auf einheimische Arten erhöht sich und kann ein großes Ausmaß annehmen. Es treten vermehrt wirtschaftliche Schäden auf.
Phase 4. Sättigung. Alle geeigneten Lebensräume im neu besiedelten Areal sind besetzt, es ist keine weitere Expansion mehr möglich. Der Einfluss auf einheimische Arten ist in der Regel groß, Ökosysteme können stark verändert und wirtschaftliche Schäden gravierend sein. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine eingeschleppte Art sich etabliert? Und wie viele der etablierten Arten breiten sich bis hin zu invasionsartigem Wachstum aus? Antworten auf diese scheinbar einfachen Fragen sind schwierig. Zum einen werden viele eingeschleppte Arten, die sich nicht etablieren, nie entdeckt. Die Zahl der etablierten Arten ist daher immer eine Mindestzahl. Zum anderen kann bei einer etablierten Art nicht abgeschätzt werden, ob sie sich noch in der Eingewöhnungsphase befindet und zukünftig invasiv wird, oder ob das nicht der Fall sein wird. Eine solche Zahl wird daher ebenfalls immer eine Mindestannahme darstellen.
Früher wurde aufgrund der Analyse von invasiven Pflanzen von einer allgemeinen zehnprozentigen Wahrscheinlichkeit des Übergangs von Phase 1 zu Phase 2 und anschließend zu Phase 3 gesprochen («Zehnerregel », Williamson 1996). Demnach würde nur etwa 1 % aller eingeschleppten Arten invasiv. Pflanzen weisen in der Tat eine sehr große Zahl von Einschleppungen auf, von denen bisher erst vergleichsweise wenige zur Etablierung und Invasion führten. Bei den meisten Tieren sieht das aber deutlich anders aus. Heute wissen wir, dass die «Zehnerregel» eine zu geringe Quote ergibt und dass die Etablierungs- bzw. Ausbreitungswahrscheinlichkeit für einzelne Organismengruppen und verschiedene Lebensräume sehr unterschiedlich sein kann. In Tabelle 1 sind die Bandbreiten angegeben, die sich aufgrund von verschiedenen Analysen ergeben haben. Solche Daten zeigen, dass für die meisten Tiergruppen mit Etablierungs- und Ausbreitungswahrscheinlichkeiten in der Größenordnung von etwa 50 % zu rechnen ist.
Tab. 1: Übersicht über die durchschnittliche Etablierungs- und Ausbreitungswahrscheinlichkeit (%) von nicht-einheimischen Arten. Nach Jeschke & Strayer (2005).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der anhaltende Import von nicht-einheimischen Arten dazu führt, dass immer mehr Arten in die Etablierungsphase gelangen. Zusammen mit der Unsicherheit über die Dauer dieser Eingewöhnungsphase und der relativ hohen Wahrscheinlichkeit, dass diese Arten die Ausbreitungs- und Invasionsphase erreichen, kann davon ausgegangen werden, dass die Zahl der invasiven Arten auch in Zukunft weiter zunehmen wird. Dies würde auch der Fall sein, wenn ab sofort keine neuen Arten eingeschleppt würden, da sich noch viele Arten innerhalb dieses Prozesses befinden.
Verschärfend kommt hinzu, dass sich in den nächsten Jahrzehnten die Umweltbedingungen für viele nicht-einheimische Arten zu ihren Gunsten verändern werden. Viele dieser Arten stammen aus wärmeren Regionen, und die fortschreitende Klimaerwärmung dürfte ihre Etablierungs- und Ausbreitungschancen erhöhen. Die Lufttemperatur stieg in Europa in den letzten 20 Jahren um 1 °C, die Wassertemperatur im Rhein bei Basel nahm in den vergangenen 55 Jahren sogar um 3 °C zu (Baur & Schmidlin 2007). Mit fortschreitender Klimaerwärmung werden sich also noch mehr Neobioten etablieren können.
Warum werden Arten invasiv?
Bei einem Vergleich der ökologischen Situation einer invasiven Art im Invasionsgebiet mit der in ihrem Ursprungsgebiet fällt oft auf, dass diese Art sich in beiden Arealen unterschiedlich verhält. Oftmals ist sie in ihrem Ursprungsgebiet wenig auffällig, manchmal sogar selten, erreicht eine geringere Körpergröße oder Nachkommenzahl und weist keine auffällige Auswirkung auf ihre Umwelt auf. Im Invasionsgebiet kann die gleiche Art häufig und groß sein. Warum verhält sich die gleiche Art in beiden Gebieten so verschieden? In einer großen Zahl von wissenschaftlichen Studien wurde versucht, durch detaillierte Analysen bestimmte Merkmale herauszufiltern, durch die sich invasive Arten auszeichnen.
Insgesamt waren die Ergebnisse solcher Studien meist wenig hilfreich. Merkmale erfolgreicher Neophyten sind beispielsweise eine große Samenzahl, effiziente Ausbreitungsmechanismen, rasches Wachstum und starke Konkurrenzkraft. Für Tiere sind in ähnlicher Weise eine hohe Nachkommenzahl und gute Ausbreitungsmöglichkeiten wichtig. Generell etablieren sich eher anspruchslose Arten, die zudem eine bestimmte Affinität zum Menschen aufweisen, leichter und werden dann auch häufiger invasiv. Dies trifft beispielsweise auf Nutz- und Gartenpflanzen zu, auf Nutz-, Jagd- und Heimtiere sowie auf alle sonst mit dem Menschen verbundenen Arten. Bestimmte Wachstums- oder Lebensstrategien, die durchschnittliche Populationsdichte, Körpergröße oder Lebensdauer, die Ernährungsweise oder bestimmte Verhaltenskomponenten haben hingegen kaum Bezug zur möglichen Invasionsfähigkeit