Tanja Sturm

Lehrbuch Heterogenität in der Schule


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erfolgen wie auch in der Schule selbst. Die Differenz zwischen ihnen ist relational.

      Felder haben eine Handlungsgeschichte; sie „lebt“ in den Strukturen und Objekten fort, die das Feld hervorgebracht hat und die Ausdruck von Auseinandersetzungen seiner Genese (Entstehung) sind. Diese Geschichte enthält die Bedeutungen vorangegangener Auseinandersetzungen (Bourdieu 1998, 56 f; 141 f).

      Feld der Macht

      Das gesamtgesellschaftliche Feld ist zugleich als ein Machtfeld konstituiert. Es unterscheidet sich von anderen Feldern dadurch, dass diese in ihm angesiedelt sind und es sich durch unterschiedliche Machtpositionen auszeichnet. Die symbolische Bedeutung und Macht von Kapitalsorten stellen den Gegenstand der Auseinandersetzungen dar. Der relative Wert sowie der Tauschwert von Kapitalsorten steht hier auf dem Spiel. Einfluss und Macht werden in diesem Feld durch das Verfügen über bürokratische Instanzen erlangt und ausgeweitet. Ein Beispiel hierfür ist die Häufigkeit der Vergabe von Bildungstiteln: Je seltener ein Bildungstitel vergeben wird, desto höher ist sein Wert. Wird der Bildungstitel häufiger vergeben, sinkt dieser Wert, da er nicht mehr in vergleichbarem Maße gesellschaftliche Privilegien absichert.

      2.3 Schule als Organisation

      Milieu und Organisation: Sozialisations-, Bildungs- und Lernprozesse finden nicht allein in sozialen Milieus statt, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil in gesellschaftlichen Organisationen wie der Schule. Die Definition von „Organisation“ erfolgt hier als Unterscheidung zum bereits bekannten Verständnis von „Milieu“. Organisationen und Milieus ist zunächst gemeinsam, dass sich in ihnen und durch sie überindividuelle Handlungsweisen entwickelt und herausgebildet haben. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Art und Weise, wie diese Regelmäßigkeiten moderiert sind bzw. zur Verfügung stehen und, damit im Zusammenhang stehend, wie die Teilhabe an ihnen funktioniert.

      Modi der Teilhabe

      Im vorangegangenen Abschnitt wurden Milieus als kollektive Formen der Lebenspraxis vorgestellt, denen konjunktive, homologe Erfahrungen ihrer Angehörigen zugrunde liegen. Die Angehörigen eines Milieus folgen impliziten Regeln, ohne dass ihnen diese reflexiv zugänglich sind oder sein müssen. Organisationen zeichnen sich hingegen durch explizite Regeln aus. Diese sind formal festgehalten und umfassen Verhaltenserwartungen sowie Rechte und Ressourcen, die an die Mitglieder – nicht als Einzelpersonen, sondern im Modus sozialer Rollen – formuliert werden. Mitglieder, die sich nicht an die formalen Regeln der Organisation halten, riskieren ihre Mitgliedschaft (Nohl 2007, 66 f).

      In der Schule besteht eine formale Regel, wann der Unterricht beginnt. Zu dieser Zeit haben die Schüler / -innen anwesend zu sein. Missachten die Schüler / -innen diese Regel mehrfach, riskieren sie, über einen Weg von Verwarnungen und Mahnungen ihre Mitgliedschaft in der konkreten Schule. Aufgrund der Schulpflicht gilt dies zwar nicht für den Schulbesuch insgesamt, wohl aber in Bezug auf die konkrete Lerngruppe und die besuchte Schule.

      Im Gegensatz zu einem Milieu, das vielschichtig und mehrdimensional aufgebaut ist, ist die Mitgliedschaft in einer Organisation distinktiv geregelt; sie liegt vor oder sie liegt nicht vor. Der Beitritt zu einer Organisation erfolgt üblicherweise durch die eigene Zustimmung und die der Organisation. In der Organisation Schule gilt dies für die Schüler / -innen im Vergleich zu den Lehrkräften insofern eingeschränkt, als dass die Schulpflicht in Deutschland ihren Besuch rechtlich regelt. Die Lehrpersonen hingegen sind sich ihrer Mitgliedschaftsrolle und einer relativen Freiwilligkeit bewusst; sie ist insofern relativ zu sehen, da die Tätigkeit (auch) zur Sicherung des Lebensunterhaltes ausgeführt wird.

      Lehrkräfte sind sich ihrer organisationalen Mitgliedschaften v. a. in Situationen bewusst, in denen sich ihre (pädagogischen) Überzeugungen gegen die Organisationen richten. Dies kann dann der Fall sein, wenn sie Schüler / -innen Zensuren geben müssen. Widersprechen sie dieser Praxis, welche die Organisation qua formaler Regelungen einfordert, droht ihnen ein Disziplinarverfahren, das die Androhung eines Ausschlusses darstellt. Mitgliedschaft liegt hier, im Vergleich zum Milieu, reflexiv vor. Eine Tatsache, die es ermöglicht, die Organisation zu steuern, zu stabilisieren und Veränderungen zu initiieren (Nohl 2010, 195 ff). Für die Zugehörigkeit zu einem Milieu gilt dies nicht; sie ist weder durch einen Willensakt zu erzeugen noch auf diesem Wege veränderbar. Auch kann sie, anders als eine Mitgliedschaftsrolle, nicht „gekündigt“ werden. Zugespitzt verweist dies auf Zugehörigkeit zu einem Milieu einerseits und Mitgliedschaft in einer Organisation andererseits. Mitgliedschaft und Zugehörigkeit lassen sich zwar analytisch trennen, beziehen sich aber in den Praktiken innerhalb einer Organisation wechselseitig aufeinander (Nohl 2007, 66 f).

      formale Regeln

      Eine Besonderheit von Organisationen stellen ihre formalen Regeln dar. Diese sind eine Art Rahmen, in dem sich die konkreten Regeln entwickeln, ohne als direkte und unmittelbare Handlungsanweisung zu fungieren, wie etwas ganz genau zu tun ist. Eine formale Regel kann von den Organisationsmitgliedern durch drei unterschiedliche Formen bearbeitet werden:

      

toleriertes Unterleben

      

milieugeprägte Umgangsweisen mit formalen Regeln

      

informelle Regeln des Organisationsmilieus

      Unterleben

      Die formalen Regeln können unterlaufen werden, indem sie nicht beachtet werden, ihnen also zuwider gehandelt wird. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Schüler / -innen im Unterricht untereinander Gespräche führen, während die Lehrperson der gesamten Lerngruppe etwas erklärt. Die formale Regel, dass die Schüler / -innen der Lehrperson zuhören, wird hier unterlaufen, es entsteht ein Unterleben. Dieses Unterleben kann akzeptiert und damit erlaubt werden, oder es kann vonseiten der Lehrperson sanktioniert werden (Nohl 2010, 199 ff).

      milieugeprägter Umgang mit den Regeln

      Die Mitglieder einer Organisation gehören sozialen Milieus an. Wenn habituelle Handlungsweisen und Praktiken, ihre milieugeprägte Alltagsgestaltung, das Handeln der Mitglieder auch im organisatorischen Kontext der Schule kennzeichnen, liegen milieugeprägte Umgangsweisen mit formalen Regeln vor. Dies erfolgt dann problemlos, wenn die formalen Regeln der Schule mittels des konjunktiven Erfahrungswissens verstanden und die damit verbundenen Erwartungen in den Praktiken realisiert werden.

      Hannah ist in einer Familie sozialisiert, in der sie in ihrem Alltag herausgefordert ist, Entscheidungen zu treffen, z. B., ob sie lieber einen Apfel oder eine Banane essen möchte. Wird sie von ihren Eltern oder ihren älteren Geschwistern dazu aufgefordert, kann Hannah ihre Auswahl für das eine oder das andere auch begründen. Wenn Hannah im Unterricht aufgefordert wird zu begründen, warum sie sich im Rahmen der Wochenplanarbeit für Aufgaben aus dem Fach Mathematik entschieden hat, kann sie dies. Sie wendet die von zu Hause gewohnte Praktik an, Entscheidungen zu treffen und sie zu begründen. Hannah kann die formale Regel, ihre Arbeitsschritte zu begründen, aus ihrem Milieu heraus verstehen und bearbeiten.

      informelle Regeln

      Die dritte Variante der Bearbeitung formaler Regeln besteht in ihrer Konkretisierung durch informelle Regeln im Sinne eines Organisationsmilieus. Dieses Prinzip findet sich dort, wo mittels konjunktivem Verständnis der Organisationsmitglieder eine formale Regel in die Praxis übersetzt wird. Praktiken, die sich dabei als erfolgreich erweisen und sich derart durchsetzen, dass sie überindividuellen Charakter annehmen, werden als „Organisationsmilieu“ bezeichnet. Sie stellen eine Konkretisierung