Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5


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es dem späten Werk, seren (heiter) und unberechenbar zu werden.

      Das im Alter zunehmende Individuum wird in einer überalterten Gesellschaft eher eine Seltenheit sein. Ein perverser Konservativismus hält darauf, daß den Achtzigjährigen unverändert dasselbe bewegt wie den Fünfunddreißigjährigen.36

      Von solchen Beobachtungen und Überlegungen aus entwickelt Strauß selbst wieder Sympathie für das Epigonentum, das die Bête noir der ersten Modernen war, für jene Haltung, in der die alten Römer dem Vorbild der Griechen folgten.

      Wieviel mehr die Alten wußten und vermochten! (Und die Alten sind für uns die Heroen des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts.) Diese empfindliche Achtung für die Überlegenheit der ‚Klassiker‘, wie sie in ‚römischen‘ Perioden immer wieder die Nachgeborenen ankam, scheint heute gänzlich verschwunden. Jeder hält sich für eigenartig und souverän genug, um von den Alten nur zu nehmen, was er für gewisse ironische Zwecke gebrauchen kann. (…) Seit Hitler, seit der Ära der „Bewältigungsproblematik“ sind katachronistische (unhistorische) Überheblichkeit oder Nonchalance beinahe das einzige Talent, mit dem der Gegenwartskünstler der Geschichte begegnet. Wie man aber aus unserer Zeit auf eine frühere herabschauen kann, das möchte mir einer begreiflich machen. Auch darin zeigt sich das Konservative einer Epoche der Jugendlichkeit, die zur Ideologie erstarrte.37

      So bestreitet Strauß schließlich sogar, daß es sich bei dem Prozeß der Modernisierung wirklich um einen Prozeß, um einen „Strom“ und nicht bloß um eine Ansammlung von „Pfützen“ und „Lachen“ handeln würde. Eine Dynamik, die die Jugend nicht mehr erwachsen werden und kein Projekt mehr reifen läßt, die jeden Ansatz zu einer künstlerischen Entwicklung sogleich wieder dem Schredder der Aktualität überantwortet, ist keine, ist in Wahrheit „rasender Stillstand“ (Paul Virilio), „Kristallisation“ (Arnold Gehlen).

      Angenommen gegen alle vorherrschenden Eindrücke, die moderne Welt sei eine übertrieben langanhaltende und träge Periode, eine eher statische Zeit, wo ein dichtes und doch begrenztes Spiel mit wechselnden Motiven immer weiter gespielt und nie durch ein wesentlich anderes ersetzt wird … seit hundert Jahren die gleichen Reflexionen der Befindlichkeit, noch mal Philister, Reichtum und ennui und immer noch die Gebote der Immoral nach Göttersturz, „nach Nietzsche“ ein volles Jahrhundert lang … dann tritt auf einmal das Dilatorische, das erweiterte Warten, der Aufschub in allem als das tiefere Zeitmaß hervor aus den vordergründigen Beschleunigungen.

      Komödie des Epochenschwindels. Als habe sich etwas geändert. Als säßen wir nicht ein wie eh und je in unserer historischen Ausnüchterungszelle. Als würden wir nicht als hinfällige Agnostiker, Greise der Unreife und der Ratlosigkeit das Jahrtausend wechseln.

      Das Geistige scheint wie die Pfütze auf den Schlammwegen, wenn die Sonne darauf fällt. Es wird sich aus den glänzenden Lachen kein Strom bilden.38

      Diesem Zustand der „Kristallisation“ wird die Kunst nur entkommen können, wenn sie aus dem Bannkreis des Dogmatismus der Offenheit heraustritt und sich neuerlich Rechenschaft von der Bedeutung gibt, die Traditionen und Konventionen, Autoritäten, Dogmen und Formen für das kulturelle Leben haben, wenn sie erkennt, daß das schöpferische Leben ebensowohl auf Prozessen der Traditionsbildung wie auf der menschlichen Natur beruht, daß „life is tradition and human nature“.

      Von solchen Überlegungen waren die ersten Modernen noch weit entfernt. Sie konnten ja auch noch nicht wissen, daß sich ihr programmatischer Modernismus einmal genauso zu einem „Bann der Überlieferung“ auswachsen würde wie Klassizismus, Romantizismus und Realismus, hatten noch nicht erleben müssen, wie sich Kunst und Literatur darüber in den „Konflikt der modernen Kultur“, die „Aporien des Avantgardismus“ (Hans Magnus Enzensberger) verstrickten. Für sie standen ganz andere Fragen im Vordergrund, vor allem die, ob es ihnen gelingen würde, eine Formensprache zu schaffen, die den Erwartungen an eine wahrhaft moderne Literatur genügen könnte.

      3 Naturalismus und Symbolismus

Das französische Vorbild

      Das poetologische Programm, das am Anfang des Wegs der deutschen Literatur in die Moderne steht, wird, wie wir gesehen haben, von einer neuen Generation von Autoren bereits mit großer Überzeugung verfochten, noch bevor sie Werke vorzuweisen haben, die als modern gelten könnten, die man jedenfalls aus heutiger Sicht modern nennen würde. Was sie mit solcher Entschiedenheit auf einen programmatischen Modernismus setzen ließ, war nicht nur das unabweisliche Gefühl, daß die alte Literatur, daß Realismus und Epigonendichtung abgewirtschaftet hätten und daß etwas Neues kommen müsse; es war auch der Blick über die Grenzen der deutschen Literatur hinaus, der Blick nach Frankreich, nach Paris. Denn da gab es bereits eine moderne Literatur, und es gab sie sogar schon in zwei Varianten, in Gestalt zweier Schulen, die jede auf ihre Weise einen programmatischen Modernismus praktizierten: der Schulen von Naturalismus und Symbolismus. Es waren sie, die den deutschen Autoren verbürgten, daß eine wahrhaft moderne Literatur möglich sei, und die ihnen eine Vorstellung davon vermittelten, wohin die Reise gehen würde.

      Die Leitfigur des Naturalismus war Emile Zola (1840–1902). Zola war um 1880 mit einer Reihe von Programmschriften und Romanen hervorgetreten, mit denen er ebensowohl die theoretischen Grundlagen wie einige erste Beispiele für die Literatur der neuen Bewegung geschaffen hatte. Zugleich hatte er eine Reihe von jungen Autoren um sich geschart, die mit ihm für seine Ziele stritten. Diesem Kreis trat um 1885 ein zweiter an die Seite, dessen Mittelpunkt Stéphane Mallarmé (1842–1898) war. Hier setzte man vor allem auf die Ideen von Baudelaire, auf die Begriffe von moderner Kunst und die Formen von Symbolik, die dieser kultiviert hatte – die Schule des Symbolismus.

      Die Aktivitäten der beiden Gruppierungen wurden in Deutschland von Anfang an aufmerksam verfolgt. Dabei begnügte man sich vielfach nicht mit der Lektüre der Schriften, die nach Deutschland gelangten; wer es genau wissen wollte, ging gleich selbst nach Paris, um die neue Kunst vor Ort zu studieren. So suchte etwa Michael Georg Conrad, den der Beruf des Journalisten 1878 nach Paris gebracht hatte, den Kontakt zu Zola und seinem Kreis. 1882 nach Deutschland zurückgekehrt, tat er dann alles, um seine Landsleute für die Ideen von Zola zu gewinnen, mit dem Ergebnis, daß sich bald schon ein erster Zirkel von deutschen Naturalisten um ihn bildete. Und so ging Stefan George 1889 nach Paris, um Mallarmé und seinen Kreis kennenzulernen. Und wie Conrad nicht nur die Konzepte des Naturalismus, sondern auch die Formen nach Deutschland mit zurückbrachte, in denen sich die neue Bewegung organisiert hatte, so brachte George ebensowohl die Ideen des Symbolismus wie das Modell des Mallarmé-Kreises mit nach Hause. Es dauerte nicht lange, bis sich um ihn jene Gruppierung formiert hatte, die als „George-Kreis“ in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Wer nicht in Paris gewesen war, der tat wenigstens so, als unterhalte er enge Kontakte dorthin; so findet sich in „Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze“ (1891) von Arno Holz, einer vielberufenen Programmschrift des deutschen Naturalismus, ein langer, in französischer Sprache abgefaßter Offener Brief an Zola – eine Reaktion des Adressaten ist nicht bekannt.39

Paris als Zentrum der modernen Kunst

      Paris wird nun überhaupt zum wichtigsten Ziel von Künstlern und Literaten, um es ein gutes halbes Jahrhundert zu bleiben. Es löst damit Rom ab, dessen Besuch bis dahin ein Muß für jeden werdenden Künstler war. In Rom konnte man dem Erbe der Antike unmittelbar begegnen, und das galt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis zu den letzten Nachzüglern im „Epigonenschweif der Antike“, als unabdingbare Voraussetzung für jede wahre Kunstübung. Goethe selbst hatte dies mit seiner „Italienischen Reise“ (1816–1829) noch einmal eindrucksvoll bezeugt und damit sein Teil dazu beigetragen, daß das Institut der „Grand Tour“, der Bildungsreise nach Italien, im 19. Jahrhundert eine letzte Blüte erlebte. Wer es sich leisten konnte, legte sich wie der „Dichterfürst“ Paul Heyse gleich eine Villa auf Capri zu. Auch Michael Georg Conrad hatte, bevor er nach Paris ging, sechs Jahre in Neapel gelebt; das Italienerlebnis trat bei ihm allerdings bald völlig hinter den Pariser Eindrücken zurück. Der unglückliche Verlauf des „Römischen