Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5


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der in der Münchner „Gesellschaft für modernes Leben“ entbrannte, kaum daß sie gegründet war. Er entzündete sich an einer Frage, die im katholischen München nicht ausbleiben konnte, an der Frage, ob man als Katholik modern und als Moderner katholisch sein könne, ob Modernität nicht Atheismus und Materialismus mit einbegreife. Das Ergebnis war die Einsicht, daß eine „Präcisierung der ,Moderne‘ (…) unvereinbar (…) mit dem Wesen derselben“ (MM 132–133) sei, daß also jede Festlegung des Begriffs „modern“ auf Vorstellungen wie Atheismus und Materialismus seiner Verfälschung gleichkäme. Das aber heißt nichts anderes, als daß er als eine Leerintention zu begreifen und zu handhaben sei.

      In die gleiche Richtung zielt Michael Georg Conrad, wenn er erklärt, der Kampf der Modernen sei nicht als Eintreten für ein „Ideal“, ein „Prinzip“ oder ein „Dogma“ und „Einspinnen in eine Autorität“ zu verstehen, sondern als eine Bewegung „auf der Linie des aufsteigenden Lebens“. Unter dem Titel der Moderne soll es um eine Haltung gehen, die sich dem gegenüber, was das „aufsteigende Leben“, was Evolution und Fortschritt an Neuem bringen, nicht hinter irgendwelchen „Idealen“, „Prinzipien“, „Dogmen“ und „Autoritäten“ verschanzt, sondern ihm mit rückhaltloser Offenheit begegnet – offen und in Bewegung zu sein und zu bleiben wird zu einem obersten Wert.

      Solche Feier der Offenheit läßt den Verdacht aufkommen, daß der Begriff der Modernität, auf den der programmatische Modernismus die Kunst verpflichtet, letztlich nichts anderes sei als der Hebel einer Modernisierungsdynamik, die sich zum Selbstzweck geworden ist, die allen Analysen und Programmen, die ihr angedient werden, immer schon voraus ist. Was immer sich die Zeitgenossen an Theorien in Sachen Moderne einfallen lassen – daß die Modernisierung weitergeht, steht vorab schon fest. Da kann es nicht ausbleiben, daß die Haltung der Offenheit in den Rang einer obersten Tugend aufsteigt; nur sie scheint davor bewahren zu können, daß man irgendwann unter die Räder der Modernisierungsmaschine gerät.

      Offenheit ist freilich nicht die Lösung aller Probleme; sie schafft auch wieder neue. Die Bedeutung der Offenheit liegt ja darin, daß sie es erlaubt, sich auf Neues einzulassen, und sich einlassen heißt ergreifen und festhalten und nicht gleich wieder fahrenlassen, heißt also, sich zumindest zeitweise von der Offenheit verabschieden. Eine Leerintention wie der Begriff der Modernität kann nur dadurch zur Wirkung gelangen, daß sie mit bestimmten Inhalten wie Atheismus und Materialismus gefüllt wird und daß für die Worte, Taten und Werke, in denen diese Inhalte entfaltet werden, Geltung beansprucht wird. Gelten wollen heißt aber, der Modernisierungsdynamik nicht gleich wieder weichen wollen, ja ein solcher Geltungsanspruch konstituiert sich in der Moderne recht eigentlich in dem Widerstand, den er der Modernisierungsdynamik entgegensetzt. Von ihm aus gesehen erscheint das Modernisierungsgebot mithin als ein „Prinzip“, das ihm das Leben schwermacht, nimmt es die Züge eben der „Ideale“ und „Autoritäten“ an, mit denen eigentlich Schluß sein soll, begründet es ein neues „Dogma“: den Dogmatismus der Offenheit. Die Leerintention „modern“ und ihre jeweiligen Füllungen geraten notwendig in einen Konflikt, in dem sie einander wechselseitig als dogmatische Fixierung erfahren.

Der „Konflikt der modernen Kultur“

      Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858–1918)31 hat diesen Konflikt, den er den „Konflikt der modernen Kultur“ nennt, bereits 1918 einer eingehenden Analyse unterzogen. Dabei hat er ihn, wie bei einem Jünger Nietzsches und Verfechter des Vitalismus nicht anders zu erwarten – und das war Simmel in seinen letzten Jahren – auf einen Konflikt des Lebens zurückgeführt. Leben heißt schöpferisch sein; das Leben kann sich aber nur dadurch in seiner schöpferischen Lebendigkeit bewähren, daß es Formen schafft, Werke, die in eben dem Maße, in dem sie Gestalt annehmen, aufhören lebendig zu sein, die nämlich im Moment der Fertigstellung in eine feste Form auskristallisieren. Damit treten sie dem Leben, das es geschaffen hat, als etwas gegenüber, dem es gerade sein Eigenstes, seine Lebendigkeit, nicht hat mitteilen können, so daß es sie um seiner Selbsterhaltung willen wieder zerbrechen und sich zu neuen Formen aufmachen muß, wohl wissend, daß diese auch nicht lebendiger sein werden als ihre Vorgänger.

      Das Problem ist also früh schon gesehen worden; ob aber die Analyse zureicht, die ihm Simmel hat angedeihen lassen, darf wohl bezweifelt werden. Wenn es wirklich auf einen Konflikt des Lebens überhaupt zurückzuführen wäre, dann wäre zu fragen, was an ihm das spezifisch Moderne sein sollte; dann hätte es sich eigentlich zu allen Zeiten zeigen müssen, und wenn das nicht oder nicht in der gleichen Weise wie in der Moderne der Fall gewesen sein sollte, dann müßte hier etwas hinzugetreten sein, das es allererst hätte virulent werden lassen, ein Moment, das nicht im Leben, das überhaupt nicht in den natürlichen Voraussetzungen der kulturellen Entwicklung, sondern in dieser selbst zu suchen wäre. Da wäre dann zunächst und vor allem an die Modernisierungsdynamik zu denken, wie sie alles einmal Geschaffene, alle Formen und Strukturen und alle Traditionen und Konventionen, die diese am Leben erhalten, unter den Generalverdacht des Überlebten stellt, aber auch an einen Lebensbegriff, wie ihn Simmel gebraucht, einen, der sich an die Modernisierungsdynamik angepaßt hat und demgemäß nur den Schaffensprozeß selbst als lebendig anerkennt und alles Geschaffene als tot abqualifiziert.

      Das kann man natürlich auch anders sehen, und man kann es durchaus auch als engagierter Moderner. So hat etwa die amerikanische Autorin Gertrude Stein (1874–1946), eine zentrale Figur des Avantgardismus, erklärt: „Life is tradition and human nature“,32 Leben ist Tradition und menschliche Natur. Der Satz findet sich bezeichnenderweise in dem Werk, in dem sie die Summe ihrer künstlerischen Erfahrungen zieht, in dem späten experimentellen Text „Paris, France“ (1940). Für Stein gehört das kulturelle Erbe genauso zum Leben wie die Natur. Traditionen und Konventionen ermöglichen Leben, indem sie es auf eine feste Grundlage stellen und ihm mit dem, was sie ihm an Stoffen und Formen zuführen, zu tun geben, und sie stimulieren und befruchten es selbst dort und gerade dort, wo es sich an ihnen reibt; ohne die selbstverständliche Gegenwart des kulturellen Erbes kein schöpferisches Leben, auch nicht in der Moderne.33

      Von einer solchen Sicht der Dinge sind die ersten Modernen freilich noch weit entfernt; der Historismus und der epigonale Kunstbetrieb des ausgehenden 19. Jahrhunderts lasten zu schwer auf ihnen, als daß sie dem Phänomen der Traditionsbildung etwas Positives abgewinnen könnten. So entfaltet sich die moderne Kunst und Literatur in einem konfliktgeladenen Wechselspiel zwischen dem Versuch, der Vision einer neuen Kunst mit dem Aufbringen neuer Themen und Formen Leben einzuhauchen, und einem Dogmatismus der Offenheit, der solche „Präzisierung der Moderne“ wegen der Gefahr einer neuerlichen Traditionsbildung mit „Prinzipien“, „Idealen“, „Dogmen“ und „Autoritäten“ sogleich wieder kassiert.

Die Idee einer Postmoderne

      Die Möglichkeit der dogmatischen Verfestigung eines bestimmten Begriffs von moderner Kunst ist allerdings erst in dem Moment zu einer realen Gefahr für das Ringen um Offenheit geworden, in dem man begann, von der Moderne als Epoche zu reden. Denn da mußte man dann in der Tat versuchen, ein „Ideal“ moderner Kunst zu konstruieren, nämlich „Prinzipien“ herauszuarbeiten und dogmatisch festzuschreiben, die sie von der Kunst früherer Epochen unterscheiden würden; da wurden allgemeine Aussagen wie die unumgänglich, die moderne Literatur tendiere zu Atheismus und Materialismus, bevorzuge Formen wie Freie Rhythmen, Fragment und Montage, usw. Und wirklich hat man bereits kurz nach der Jahrhundertwende begonnen, von den Jahren seit 1885 als einer eigenen, besonderen Epoche zu sprechen. So hat zum Beispiel der Berliner Schriftsteller und Literaturkritiker Samuel Lublinski (1868–1910) schon 1904 eine vielbeachtete „Bilanz der Moderne“ vorgelegt, um ihr 1909 gar eine Schrift folgen zu lassen, der er den Titel „Der Ausgang der Moderne“ gab.

      Wo man aber von der Moderne als einer Angelegenheit handelt, die wie einen Beginn, so auch einen „Ausgang“ hätte und von der sich eine „Bilanz“ aufmachen ließe, da ist die Idee einer „Postmoderne“ nicht mehr fern. In der Tat lassen sich die beiden Schriften von Lublinski als ein früher Anlauf zu einer Theorie der Postmoderne begreifen, auch wenn er das Wort „postmodern“ noch nicht kennt und mit seinen Versuchen womöglich nicht besonders weit gekommen