Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5


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der klassischen Kunst schielen, soll in jeder Hinsicht selbständig, eben „eigenwüchsig“, autochthon sein.

      Dabei soll auch auf jene Erwartung keine Rücksicht mehr genommen werden, die in der Vergangenheit mehr als alles andere den Zugang zur Kunst bestimmt hat: die Erwartung, im Kunstwerk etwas Schönem zu begegnen. Schönheit soll, wenn überhaupt, dann nur noch dort zur Darstellung kommen, wo es das Streben nach Wahrheit zuläßt. Hier wird der Bruch mit dem „Epigonenschweif der Antike“ besonders deutlich. Die Griechen und alle, die sich an ihren Begriffen von Kunst orientierten, huldigten dem Gedanken der Kalokagathie, der Vorstellung, daß alles Wahre schön und alles Schöne wahr sei. In der Moderne wird das Verhältnis von Schönheit und Wahrheit mehr und mehr ein prekäres; der „schöne Schein“ der Kunst steht nun immer schon in dem Verdacht, „Täuschung“ und „Lüge“ zu sein und nichts anderem zu dienen als der Anbiederung beim Publikum, als der „Schmeichelei“ und dem Erzeugen eines dickbramsigen, indolenten „Wohlbehagens“. Das bedeutet freilich nicht, daß man sich ein für allemal von dem Ziel verabschiedet hätte, „dem Schönen das Wahre (zu) versöhnen“; die Frage nach der Schönheit bleibt offen, aber sie bezeichnet nun eben ein Problem.

„Elan vital“

      Bei der Entwicklung dieser Vorstellungen bedienen sich die Modernen einer Sprache, die überall das Dynamische ihrer Bestrebungen hervorkehrt. Da wird von dem Willen zur „Neugestaltung“ als von einem „Drang“ und einem „Sprengen“ von „Formen“ gesprochen, da ist von „Kampf“, „Begeisterung“ und „Wagemut“ die Rede, von einem „auferstehungsgewaltigen“ „Schwellen“, „Aufbrechen“ und „Herausdrängen“, „Rauschen“ und „Brausen“, von „Hämmern“ und „Klopfen“, „Treiben“ und „Sausen“. Es soll nun um ein dichterisches Wort gehen, das als Wort bereits die Züge einer „Tat“ hätte, das die „freie Tat“ eines „starken Geistes“ wäre. In solchen Wendungen kommt zum Ausdruck, daß sich die neue Kunst durchaus als ein dynamisches Unternehmen verstanden wissen will, als ein Schauplatz dessen, was der zeitgenössische französische Philosoph Henri Bergson (1859–1941) den „élan vital“ nennt, als ein Ort, wo sich mit der Kreativität des Menschen die schöpferische Kraft des Lebens überhaupt entfaltet, wie sie sich in einer drängenden, treibenden Bewegung äußert, die unentwegt alte Formen zerbricht und neue Formen aus sich entläßt und die durch nichts zum Stillstand zu bringen ist. Die neue Kunst will in diesem Sinne vor allem eine lebendige Kunst, und das heißt für sie zugleich: eine junge Kunst sein.

      2.2 Jugend-, Lebens- und Nietzsche-Kult

Das Schlagwort „jung“

      Wenn wir die Zeugnisse noch einmal Revue passieren lassen, in denen wir uns die Programmdebatte der Zeit um 1890 vergegenwärtigt haben, so werden wir bemerken, daß in ihnen das Wort „jung“ fast genauso oft vorkommt wie das Wort „modern“. Arno Holz, der gleich im ersten Vers seines „Buchs der Zeit“ bekennt: „noch sproßt der Bart mir nicht ums Kinn“, feiert die neue Zeit als eine „junge Zeit“, und Bierbaums Muse spricht von sich als von einem „Mädel von heute“, das heute lebe und „jung“ sei, das „die wagemutigen Jungen“ liebe und das sich überhaupt allem verbunden fühle, „wonach das Junge strebt“.

      So hat man denn auch von den Münchner Modernen bald als von Jung-München, von den Wiener Modernen als von Jung-Wien und von den Berliner Modernen als von den Jüngstdeutschen gesprochen, in Erinnerung an die Jungdeutschen der Epoche des Vormärz. Die neue Kunst will eine junge Kunst sein, zu verstehen ebensowohl als eine Kunst der Jugend wie als eine neuerliche Jugend der Kunst. Die Vorherrschaft der alten Männer soll gebrochen, die Vergreisung der Kunst, ihre Erstarrung in Traditionen und Konventionen überwunden werden. Es dauert nicht lange, bis die Bestrebungen der Modernen mancherorts überhaupt unter den Begriff des Jugendstils22 gefaßt werden.

Aufwertung der Jugend

      Auf solche Weise haben Kunst und Literatur an einer Entwicklung teil, die sich seinerzeit nicht nur in der Kultur, sondern in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bemerkbar macht. Denn in der Phase der Modernisierung, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erreicht ist, erfährt der Lebensabschnitt der Jugend eine Aufwertung, die manche geradezu von der Entdeckung, ja von der Erfindung der Jugend hat sprechen lassen.23 Es sind die Jahre, in denen die sogenannte Jugendbewegung Gestalt annimmt, und mit ihr eine Jugendkultur, in der die Jugendlichen auf Distanz zur Welt der Erwachsenen gehen und unter sich sein können, in der sie sich ganz den spezifischen Bedürfnissen und Interessen ihrer Altersstufe hingeben können; man denke nur an die zahllosen Pfadfinderbünde und Sportvereine, die damals gegründet worden sind, oder an die Einrichtung besonderer Jugendherbergen.24 Zugleich lassen sich die ersten Anfänge jenes Jugendkults beobachten, der aus der Kultur der Moderne ebensowenig wegzudenken ist wie die Jugendkultur, nimmt jenes Klima Gestalt an, in dem man meint, einem Menschen in fortgeschrittenem Alter keinen größeren Gefallen tun zu können, als ihn mit dem Prädikat der Jugendlichkeit zu beehren.

      Nun haben Kunst und Literatur seit jeher eine besondere Vorliebe für die Jugend gehabt. Wo man die Welt im Licht des Staunens, der „ästhetischen Thaumaturgie“ erkundet, wie das die erste, wichtigste Quelle der künstlerischen Produktion ist, da gerät man wie von selbst an die Lebensphase, in der sich das geistige Erwachen des Menschen vollzieht, in der er staunend die Welt für sich entdeckt, die erste große Liebe erlebt und die ersten wichtigen Lebensentscheidungen trifft, zumal hier auch am ehesten ein Stoff zusammenkommt, mit dem sich ein Publikum beschäftigen und unterhalten läßt. Und auch das Ausgehen auf Schönheit führt die Kunst zur Jugend, wird sie bei ihr doch besonders leicht fündig. Jenseits von Kunst und Literatur ist die Situation allerdings bis weit ins 19. Jahrhundert hinein immer eine andere gewesen; da hat die Gesellschaft der Jugendphase keineswegs eine besondere Bedeutung zuerkannt, hat sie den „Mannesjahren“ und dem Alter stets eine höhere Wertigkeit als der Jugend zugesprochen, wegen der größeren Lebenserfahrung, dem größeren Wissen und Können und der größeren Reife des Urteils, die dem Menschen im Laufe der Jahre zuwachsen.

      Das ändert sich nun eben am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Modernisierung hat hier ein Tempo erreicht, das alles Wissen und Können so schnell veralten läßt, daß der Einzelne dabei nicht mehr mithalten kann, daß das, was er sich im Laufe seines Lebens an Kenntnissen und Fähigkeiten erworben hat, irgendwann nicht mehr zu gebrauchen ist, daß er seine Lebenserfahrung überlebt. Auch hat die solchermaßen in permanenter Runderneuerung begriffene Welt kaum noch Verwendung für eine gereifte Urteilskraft; weit lieber ist ihr eine „Schwarmintelligenz“, bei der die Urteilskraft durch „Networking“ ersetzt ist. Und so wird hier aus dem jugendlichen Mangel an Erfahrung, an Wissen, Können und Urteilskraft die Tugend der Offenheit für das Neue. Die moderne Welt braucht den Einzelnen als unbeschriebenes Blatt, braucht ihn als einen Menschen, der noch nicht festgelegt ist, der weder durch eingeschliffene Gewohnheiten noch durch gefestigte Überzeugungen daran gehindert wird, bei allem mitzumachen, was gerade an Novitäten aufs Tapet kommt. Sie braucht Flexibilität und Mobilität, Vitalität und Dynamik, und die finden sich am ehesten bei der Jugend.

„Jung“ vs. „modern“

      Auch wenn die Verfechter einer neuen Kunst mit dem Begriff der Jugend letztlich in die gleiche Richtung zielen wie mit dem der Modernität, verleiht er ihrem Programm doch einen anderen Akzent. Das Wort „modern“ ist, wie wir gehört haben, ein Kunstwort der lateinischen Gelehrtensprache, eines, das sich zunächst in den romanischen Sprachen eingebürgert hat, und von ihnen aus dann auch in der deutschen; das Wort „jung“ hingegen ist ein urdeutsches Wort, ist germanischen Ursprungs. Auch bezeichnet „jung“ in seiner ursprünglichen Bedeutung etwas Natürliches, eine Phase in der Entwicklung der Lebewesen, die sie von Natur aus durchlaufen; „modern“ hingegen ist nicht nur ein Kunstwort, sondern meint auch etwas Künstliches, zielt es doch auf den neuesten Stand in der Entwicklung dessen, was die menschliche Gesellschaft an „zivilisatorischen Realitäten“ aus sich hervorbringt.

      Hinzu kommt, daß man seinerzeit weithin der Überzeugung ist, die Deutschen hätten eine besondere Neigung zur