Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5


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schien so weitermachen zu wollen wie bisher, schien sich weiterhin in den Bahnen bewegen zu wollen, die ihr durch die Traditionen der abendländischen Kunst vorgezeichnet waren.

Literatur zwischen Klassik und Moderne

      Zwar gab es seit den fünfziger Jahren schon eine Literatur, die sich zum Realismus bekannte, und das war eine Literatur, die sich bewußt in der Gegenwart, auf dem Boden der modernen Welt angesiedelt hatte. Doch hatte man deshalb nicht aufgehört, auf die Goethezeit zurückzublicken, ja in gewisser Weise war deren Literatur präsenter denn je, galt sie inzwischen doch allgemein als klassisch, und das heißt: als unübertreffliches, in alle Zukunft unentbehrliches Vorbild aller wahren Kunst. Das aber bedeutete, daß das literarische Leben auch zu Zeiten des Realismus noch immer im Bann der abendländischen Kunsttradition stand. Die Literatur der Goethezeit hatte sich ja wesentlich in der Auseinandersetzung mit dieser Tradition entwickelt, hatte insbesondere noch immer auf den Dialog mit der Antike gesetzt; wer sich an ihr orientierte, blieb mithin ein Gefangener der Überlieferung.

      Auch den Realisten selbst war es nicht wirklich gelungen, aus dem Bannkreis der Tradition herauszutreten, denn auch sie begriffen sich noch immer als „Epigonen“ der „Goetheschen Kunstperiode“ (Heine), als Nachgeborene, die den großen Vorgängern nicht das Wasser reichen könnten. Und das hatte zur Folge – so sahen es jedenfalls die Modernen – daß sie immerzu auf Kompromisse zwischen den Anforderungen der Gegenwart und der überkommenen Kunstübung ausgingen, Kompromisse, die, wie den Modernen schien, der Literatur nicht recht bekommen waren, faule Kompromisse, die es weder erlaubt hatten, der modernen Welt schonungslos ins Auge zu sehen, noch die Schönheit der alten Kunst wiederzubringen, so daß Wahrheit und Schönheit gleichermaßen auf der Strecke geblieben waren.

Abrechnung mit den „Epigonen“

      Wenn sich die Modernen der ersten Stunde auch in vielem, fast in allem uneins waren – denn die einen gingen auf einen Naturalismus, die anderen auf einen Symbolismus aus – in einem stimmten sie überein: mit dem „furchtbaren Epigonenschweif der Antike“ (M. G. Conrad) sollte ein- für allemal Schluß sein (MM 143). Und Epigonen waren für sie fast alle Autoren der älteren Generation, einschließlich der Realisten – nicht völlig zu Unrecht, insofern sich die Realisten, wie angedeutet, als Epigonen der „Goetheschen Kunstperiode“ gesehen hatten und diese Selbsteinschätzung in ihren Werken ihre Spuren hinterlassen hatte, doch auch nicht ganz zu Recht, da sie sich sehr viel entschiedener und gründlicher auf die modernen Verhältnisse eingelassen hatten, als die Modernen wahrhaben wollten. Entschlossene Revolutionäre pflegen sich freilich nicht lange mit derartigen Differenzierungen aufzuhalten.

„Epigonen“

      Und richtend wird es euch entgegendröhnen:

      „Verfluchte Schar von Gegenwartsverächtern!

      Gewandelt seid ihr zwischen den Geschlechtern,

      Den Vätern fremd und fremd den eignen Söhnen;

      Ihr schwanktet kläglich zwischen den Verfechtern

      Von neuen Farben, neuen eignen Tönen,

      Von neuem Zweifeln, Suchen, Lachen, Stöhnen,

      Und zwischen des Ererbten starren Wächtern.

      In Unverstehen seid ihr hingegangen

      Durch aller Stürme heilig großes Grauen,

      Durch aller Farben glühend starkes Prangen

      In taubem Hören und in blindem Schauen:

      All Eines ist der Anfang und das Ende,

      Und wo du stehst, dort ist die Zeitenwende!“ (HGW 1, 119)

      Als Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) 1891, in dem gleichen Jahr, in dem Bierbaum mit seinem Prolog vor das Münchner Künstlerfest trat, dieses Gedicht schrieb, war er gerade einmal siebzehn Jahre alt – ein Wunderkind der modernen Literatur wie vor ihm etwa auch Rimbaud. Wie diesem erlaubte es ihm seine Jugend, besonders energisch mit der Vätergeneration abzurechnen. Wenn er deren Literatur als epigonal brandmarkt, so zielt damit auch er auf das Kompromißlerische ihrer Kunst, darauf, daß sie sich nicht zwischen dem „Ererbten“ und „eignen Tönen“ hätten entscheiden können und daß sie deshalb zwischen beiden Seiten auf eine Weise herumlaviert hätten, mit der sie weder der Kunst der Vergangenheit noch den Anforderungen der Gegenwart gerecht geworden wären, ja letztlich nicht mehr zum Ausdruck gebracht hätten, als daß sie beides nicht wirklich begriffen, beidem mit gleich großem „Unverstehen“ gegenübergestanden hätten.

      Demgegenüber fordert er eine Kunst, die sich klarmacht, daß sie an einer „Zeitenwende“ steht, und sich zu einem Ort gestaltet, an dem die Konflikte dieser „Zeitenwende“ ausgetragen werden, an dem ebensowohl das von den „Stürmen“ der Zeit ausgelöste „heilig große Grauen“ wie das „glühend starke Prangen“ der „neuen Farben“, ebensowohl das Bedrohliche wie das Faszinierende der neuen Zeit zur Geltung kommen. Mit dem halbherzigen Lavieren zwischen Altem und Neuem soll ein für allemal Schluß sein.

      Von diesem Standpunkt aus muß sich freilich auch Hofmannsthals Gedicht kritische Fragen gefallen lassen. Es bedient sich der Form des Sonetts, also einer überkommenen Form, ja der Form, die der Inbegriff des Traditionellen in der Lyrik ist. Und überdies bewegt es sich dabei innerhalb des thematischen Spektrums, das durch die Tradition vorgezeichnet ist; denn spätestens seit der Romantik galt das Sonett als eine Form, die besonders geeignet für die Gestaltung kunst- und literaturtheoretischer Inhalte sei, und um eine Standortbestimmung von Kunst und Literatur geht es ja auch bei Hofmannsthal. Hat er seinen neuen Wein also nicht in einen alten Schlauch gegossen, so wie Bierbaum den seinen in dem Münchner Festprolog? Immerhin hebt sich die Form des Sonetts vorteilhaft von der seriellen Liedproduktion der Epigonen ab. Zudem ist sie inzwischen zum Ausgangspunkt einer eigenen Tradition der Moderne geworden, ist sie doch eine Lieblingsform von Baudelaire und seiner Schule gewesen. Wie immer man Hofmannsthals Griff zum Sonett deuten mag – so oder so wird deutlich, daß es gar nicht so einfach war, mit der Überlieferung zu brechen und den Salto mortale aus der abendländischen Kunsttradition in eine voraussetzungslose Gegenwart zu vollführen, jedenfalls nicht so leicht, wie es hochgemute Modernisierungsprogramme scheinen ließen.

Vom Epigonentum zu „neuen eignen Tönen“

      Das vordringliche Anliegen der ersten Generation von modernen Autoren ist es, dem Epigonentum mit seinen faulen Kompromissen zwischen dem Alten und dem Neuen zu entkommen, und dies um so mehr, als die meisten von ihnen selbst als Epigonen, ja als Epigonen von Epigonen begonnen haben. Das gilt etwa auch für den Autor, der mit dem Skandalerfolg seines Dramas „Vor Sonnenaufgang“ 1889 dem Naturalismus in Deutschland zum Durchbruch verhalf, und mit ihm der modernen Literatur überhaupt, für Gerhart Hauptmann (1862–1946),17 und es gilt für ihn sogar in besonderem Maße. Seine Anfänge zeigen ihn nicht nur als einen von vielen im „Epigonenschweif der Antike“; mit dem Drama „Germanen und Römer“ (1881/82) und dem Epos „Promethidenlos“ (1885) präsentiert er sich als ein Autor, der so sehr den Traditionen von Klassik und Romantik verhaftet ist, daß er selbst noch von den Errungenschaften des Realismus unberührt geblieben ist.

      Höhe- und Wendepunkt dieses durch und durch epigonalen Start ups ist ein Studienaufenthalt in Rom, dem Mekka des Klassizismus, in den Jahren 1884/85. Hauptmann, der es zunächst sowohl mit der Bildenden Kunst als auch mit der Literatur versucht hat, hofft, auf dem „klassischen Boden“ (Goethe) Roms entscheidende Schritte in seiner Entwicklung als Bildhauer tun zu können. Nach seinem eigenen Zeugnis hat er die meiste Zeit mit der Arbeit an einer monumentalen Plastik zugebracht, die Arminius gewidmet war, jenem Mustergermanen des altrömischen Historikers Tacitus, dem die nationalromantische Bewegung die Rolle eines ersten deutschen Nationalhelden zugewiesen hatte. Als die zentnerschwere Statue über Hauptmann zusammenbricht, weil er in seinem idealischen Schwung den Gesetzen der Schwerkraft nicht die gebührende Beachtung geschenkt hat – ein Malheur, das einem Dichter nicht passieren kann – kommt es zur Krise. An deren Ende stehen Überlegungen, die Hauptmann in „Das Abenteuer meiner Jugend“ (1937) im Rückblick wie folgt rekonstruiert hat:

      Man wird sich erinnern,