Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5


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Flagge in See stechen zu lassen. Auch Bierbaums „Sommermuse“ kann es gar nicht oft genug aussprechen: „Vom Scheitel bis zum Fuße bin ich modern, modern, modern“. Schon 1886 hat Arno Holz in seinem „Buch der Zeit“ die Parole ausgegeben: „Modern sei der Poet, modern vom Scheitel bis zur Sohle“. Modern zu sein ist die Losung all derer, die seinerzeit auf die Bühne des literarischen Lebens drängen. Mit dem Alten, mit den Traditionen und Konventionen der Kunst soll gebrochen werden, auch und gerade mit denen, die unter dem Vorzeichen des „Klassischen“ auf die Gegenwart gekommen sind; etwas Neues soll auf den Weg gebracht werden, das sich auf nichts anderes als das „Heute“ gründet und das der Kunst einen neuen Frühling, eine neue Blüte bringen wird.

Die Forderung nach einem Neubeginn in der Kunst

      In diesem Sinne steht der Wille zum Modernsein, steht ein programmatischer Modernismus am Beginn der modernen Literatur in Deutschland. Er weiß sich bereits mit großer Bestimmtheit zu bekunden, noch bevor eine Literatur Gestalt angenommen hat, die den Namen modern wirklich verdient, die mit neuen Themen und Formen aufwarten kann. Auch Bierbaums Verse klingen ja noch recht konventionell; es sind Verse, wie man sie aus der liedhaften Lyrik kennt, wenn sie sich auch bereits der Liedstrophe entledigt haben. Und überhaupt: wer seine Worte noch einer Muse in den Mund legt, der hat sich vom „Klassischen“ noch nicht allzu weit entfernt. Was dem programmatischen Modernismus seine Selbstsicherheit verleiht, sind zunächst noch keine eigenen Leistungen, ist nicht mehr als die Überzeugung, daß die alte Kunst und Literatur abgewirtschaftet habe, daß mit ihr in der „neuen Zeit“ nicht mehr viel anzufangen sei und daß deshalb mit ihr gebrochen werden müsse.

      Dieses Pathos des Neuanfangs ist nun in der Tat etwas Neues, und zwar etwas völlig Neues, etwas, das es so in der Geschichte der Kunst noch nicht gegeben hat. Natürlich hat es der Kunst auch in früherer Zeit nicht an Innovationen gefehlt, doch sind diese in der Regel aus dem Studium älterer Kunst erwachsen, als Versuche, das von den Vorgängern Geschaffene weiterzuentwickeln, es zu überbieten, mit anderem zu verbinden oder in eine Richtung zu treiben, an die noch niemand gedacht hat. Nun will man ganz und gar mit der Überlieferung brechen, will man eine „Stunde Null“ herbeiführen, die alle ältere Kunst aus dem Blick entfernt und einen völligen Neubeginn möglich macht.

Zur Geschichte des Begriffs „modern“

      Der Begriff, um den sich das Streben nach dem voraussetzungslos Neuen kristallisiert, der der Modernität, ist selbst freilich alles andere als neu; immerhin erfährt er nun eine Um- und Neudeutung, die durchaus aufschlußreich für die Veränderungen an der Schwelle zur Moderne ist. Das Wort „modern“ ist eine Schöpfung bereits des Mittelalters, ein Kunstwort mittelalterlicher Theoriebildung, abgeleitet vom lateinischen „modo“, zu deutsch „eben, gerade, vor kurzem“, und eingeführt als Gegenbegriff zu lateinisch „antiquus“, deutsch „einstig, früher, alt, altertümlich“. Dementsprechend begegnet es durch die gesamte Neuzeit hindurch und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fast ausschließlich als Teil der Dichotomie antik – modern, wie sie vor allem dazu diente, die Kultur des neuzeitlichen Europa mit der der alten Griechen und Römer zu vergleichen. Seit der Renaissance, seit den Zeiten des frühneuzeitlichen Humanismus hat dieses Europa seine eigenen Möglichkeiten ja in einer permanenten Auseinandersetzung mit der Hinterlassenschaft der Antike entwickelt, in allen Bereichen der Kultur, ganz besonders aber in Kunst und Literatur.

      So bildet das Begriffspaar antik – modern etwa das Rückgrat jener europaweiten Debatte, die von 1670 bis 1830, von der französischen Klassik bis zur deutschen Klassik und Romantik, alles Nachdenken über Literatur bestimmte, der „Querelle des Anciens et des Modernes“, des Streits zwischen denen, die die Kunst und Kultur der Antike für unübertrefflich hielten, und denen, die den Werken der Neuzeit eigentümliche, besondere Qualitäten zusprachen, von denen die Antike noch nichts gewußt habe. Beide Parteien zielten mit ihren Überlegungen freilich gleichermaßen auf eine Literatur, die sich an antiken Vorbildern schulte; auch die „Modernes“ konnten und wollten sich eine Literatur noch nicht vorstellen, die gar nichts von den Alten hätte, die nichts als modern und dennoch große Kunst und schön wäre.

      Das ändert sich erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, und zwar zunächst in Frankreich, im Kreis um Charles Baudelaire (1821–1867), wovon gerade dessen Umgang mit dem Begriff „modern“ Zeugnis ablegt. Baudelaire gilt weithin als der erste moderne Dichter, wohl zu Recht, jedenfalls soweit sich eine historische Entwicklung wie der Übergang zur Moderne an einer einzelnen Person festmachen läßt. Bei ihm beginnt der Aufstand gegen den Historismus und den Kult der Klassik, der seinerzeit wie in Deutschland, so in den meisten Ländern Europas die Szene beherrschte, beginnt die Abkehr von dem, was er „Eklektizismus“ nennt. In diesem Zusammenhang macht er von dem Begriff des Modernen auf eine Weise Gebrauch, über der er sich mehr und mehr von seinem altgedienten Pendant „antik“ löst und eine von diesem unabhängige, eigenständige Bedeutung annimmt – ein markantes Indiz dafür, daß die Literatur allmählich aufhört, sich über den Bezug zum Erbe der Antike zu definieren.15

      „Il faut être absolument moderne“,16 heißt es bald schon bei Arthur Rimbaud (1854–1891), einem Autor aus der Schule von Baudelaire. Der Künstler der Gegenwart soll absolut modern sein, nicht nur relativ modern, nicht nur modern im Vergleich mit dem Erbe der Antike und den Begriffen von Kunst und Schönheit, die in ihm beschlossen sind. Die Literatur soll sich ohne Wenn und Aber auf den Boden der modernen Welt stellen, soll ihre Themen und Formen ausschließlich im Blick auf die Gegenwart entwickeln und aufhören, nach der Kunst der Vergangenheit zu schielen, sich an deren Vorstellungen von Kunst und Schönheit zu messen. In eben diesem Sinne heißt es dann auch bei Bierbaum:

      Will mich in gar nichts Vergangnes bequemen,

      Heut leb ich und lieb ich und heut bin ich jung,

      Dem Heute entatm’ ich Begeisterung.

Von Renaissancen zu Avantgarden

      Uns sind diese Vorstellungen inzwischen bestens vertraut, ja sie sind bis heute so selbstverständlich geworden, daß wir zu der Annahme neigen, alle Kunst sei seit jeher darauf ausgegangen, mit Traditionen und Konventionen zu brechen, die Macht der Gewohnheit auszuhebeln und die überkommenen Formen zu sprengen. Doch das ist keineswegs der Fall; der Ruf der ersten Modernen nach einem radikalen Neuanfang ist seinerzeit etwas durchaus Neues gewesen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, bis zur Klassik und zu deren Epigonen sind es vor allem Renaissancen, die den Entwicklungsgang von Kunst und Literatur bestimmen, ist es wesentlich eine immer wieder neu und anders in Angriff genommene Auseinandersetzung mit dem Erbe der Antike, wodurch Neues in die Welt kommt, und seit der Präromantik des 18. Jahrhunderts dann zusätzlich auch noch die Auseinandersetzung mit dem Erbe des Mittelalters. Nun beginnen Avantgarden die entscheidenden Impulse zu setzen, Bewegungen, deren Protagonisten gerade nicht mehr zurückschauen und das Gespräch mit den Größen der Vergangenheit suchen, die vielmehr „absolut modern“ sein wollen, die mit der Vergangenheit brechen und einzig von den Gegebenheiten der modernen Welt aus Neues schaffen wollen. In der Moderne sind es nicht mehr Renaissancen, sondern Avantgarden, die den Gang der Dinge bestimmen.

      2.1.2 Kritik am Epigonentum

Deutschland im Bann der Modernisierung

      Daß sich die Generation, die in den achtziger, neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Bühne der Literatur betrat, einem solchen programmatischen Modernismus verschrieb, ist unschwer zu verstehen. Deutschland erlebte im letzten Drittel des Jahrhunderts, in den sogenannten Gründerjahren, einen Modernisierungsschub, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte; damals sprach man freilich noch nicht von Modernisierung, sondern von Fortschritt. Die Wissenschaften entwickelten sich auf eine Weise, die es ihnen erlaubte, mit einer ständig wachsenden Zahl von Entdeckungen und Erkenntnissen aufzuwarten und von ihnen aus an das Zeichnen eines neuen Welt- und Menschenbilds zu gehen. Zugleich schufen sie mit ihren Neuerungen die Grundlage für eine Ingenieurskunst, die auf breiter Front den Übergang zur technisch-industriellen Produktionsweise ins Werk setzte und damit nicht nur der Arbeitswelt, sondern sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ein neues Gesicht gab. Ja es bildeten sich nun völlig neue Lebensräume heran, so zum Beispiel die Welt der modernen Großstadt.