– natürlich weitestgehend zu Fuß – in größerem Stil auf. Zuerst ist das Heilige Land mit dem Grab Christi Pilgerziel Nummer 1, doch 1291 nach der Eroberung durch die Mameluken wird diese Region für christliche Pilger eine unerreichbare, und man sucht neue Ziele in relativer „Nähe“, d. h. in Europa. Dabei rücken die Apostelgräber in den Blickwinkel der Pilger, die Gräber von Petrus und Paulus in Rom und am westlichen „Ende der Welt“ dasjenige des hl. Jakobus in Santiago de Compostela.
So entwickelt sich seit dem 11./12. Jahrhundert mit dem Jakobsweg ein ausgedehntes Wegenetz in Europa, dessen Wege sich zunehmend bündeln, um dann in einem Hauptweg ab Puente la Reina nach Santiago de Compostela zu führen. Auch eine Infrastruktur für die Fernwanderer entsteht bereits in jener Zeit, wie zum Beispiel die Hospize am Somport-Pass oder das Hospiz von Roncesvalles.
Die mittelalterliche Pilgerfahrt war bereits ein Massenphänomen. „Über das Zusammenströmen riesiger Pilgermassen an den großen Pilgerzentren des Abendlands, aber auch an kleineren, plötzlich in Mode gekommenen Gnadenorten nennen uns die zeitgenössischen Quellen Zahlen, die kaum glaubhaft erscheinen würden, wenn sie nicht häufig in ganz unverdächtigen Überlieferungszusammenhängen stünden.“ (PLÖTZ (2003), S. 24) OHLER (1986, S. 285) schätzt, dass auf dem Camino de Santiago, d. h. der spanischen Hauptroute, jährlich zwischen 200.000 und 500.000 Menschen pilgerten.
Wohl niemand nahm in jener Zeit die Mühsal und Gefahren einer Pilgerreise auf dem Jakobsweg auf sich, „nur“ zur Selbstfindung oder als sportliche Herausforderung – wie die heutigen Motive für viele sein mögen. Im Mittelalter begab man sich vor allem aus folgenden Gründen auf den gefährlichen Weg, von dem die Rückkehr in die Heimat keinesfalls sicher war: Häufig war ein Gelübde der Anlass; rettete der angerufene Heilige einen Bedrängten aus seiner schweren Not, zum Beispiel einem Schiffbruch oder schlimmen Krankheit, versprach man bei Rettung eine Pilgerfahrt als Dank. „Nach Santiago geht man oft auch (…) zur Buße und Sühne, sei es aus eigenem Antrieb, weil man sich von einer besonders schweren Sünde reinigen will, sei es durch kirchen- und zivilrechtliche Sanktionen. Besonders in den Niederlanden und Deutschland waren Strafpilgerfahrten für bestimmte verbrechen üblich.“ (CAUCCI VON SAUKEN (2003), S. 92) Für schwerste Verbrechen wurde man zum weitesten Pilgerweg verdammt. Aber manche gingen auch als bezahlte Wanderer, als so genannte Delegationspilger, auf den Jakobsweg. Anfang des 15. Jahrhunderts konnte man als Lohn für diese Tour als Stellvertreter eines „verhinderten“ Pilgers fünf Goldstücke erhalten, von denen man sich in jener Zeit einen Ochsen oder zwanzig Schafe hätte kaufen können (vgl. a. a. O., S. 94).
Ein Motiv, das damals wie heute manchen zur Pilgerreise veranlasste, war der vorrübergehende Ausstieg aus dem Alltag. Reiseberichte und Tagebücher aus dem Mittelalter überliefern, dass sich auch Entdeckerfreude und Neugier mit Frömmigkeit paaren konnten. Mit der Pilgerfahrt ist der Aspekt der Barmherzigkeit eng verbunden und stellt einen grundlegenden Wert dar. Das bedeutete/bedeutet auch heute noch, dass Hospitäler, Hospize und andere Hilfseinrichtungen an allen Pilgerwegen entstanden. Hinzu kam auch die persönliche Barmherzigkeit eines jeden gegenüber Armen und Bedürftigen. Darunter fielen die Pilger, die mittellos auf die Reise gingen. Sie trugen als Wandergepäck nur eine Pilgertasche, einen engen und oben immer offenen Beutel. Hinter dieser Form verbarg sich zum einen, dass man nur mit dem Allernötigsten, mit kleinsten Vorräten unterwegs war – und für Weiteres auf den Herrn vertraute; zum anderen symbolisierte der fehlende Verschluss, dass immer man zum Nehmen und Geben bereit war.
Von unzähligen Faktoren hing es ab, wie lange man auf dem Jakobsweg unterwegs war, denn schließlich gehörte zum Ankommen in Santiago de Compostela auch noch der Rückweg zu Fuß oder, wenn man aus dem Norden Europas aufgebrochen war, dazu noch eine Schiffsreise. Wenn die Reise im niederländischen oder westdeutschen Raum begann, benötigte man wohl im besten Falle rund sechs Monate für Hin- und Rückweg. Ein Strafpilger aus Antwerpen ist überliefert, der 1403 dies in der Hälfte der Zeit schaffte, ein anderer nahm sich da entschieden mehr Zeit: Seine Büßertour dauerte von 1425 bis 1437.
Der Sprung in die Gegenwart: 1987 erklärt der Europarat die Jakobswege, d. h. das Wegegeflecht, das sich durch den Kontinent zieht, zur ersten Europäischen Kulturstraße. 1993 wird die spanische „Zielgerade“ des Camino de Santiago von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt. Dabei handelt es sich um den letzten, immerhin noch knapp 700 Kilometer langen Abschnitt, in dem sich die beiden aus Frankreich kommenden Wege – von Roncesvalles über den Valcarlos Pass und von Canfranc über den Somport Pass – zwischen Pamplona und Puente la Reina zu einem Hauptweg vereinen.
♦ Linktipps
▶ Camino de Santiago auf der UNESCO-Weltkulturerbeliste
– spanischer Teil des Jakobswegs als Weltkulturerbe
whc.unesco.org/en/list/669
– französische Abschnitte des Jakobswegs als Weltkulturerbe
whc.unesco.org/en/list/868
Das aktuelle Pilgern wird in → Kap. 7.8 behandelt.
♦ Literatur
CAUCCI VON SAUKEN, P. (2003): Leben und Bedeutung der Pilgerfahrt. In: CAUCCI VON SAUKEN, P. (Hrsg.): Santiago de Compostela. Pilgerwege. Weltbild, Augsburg, S. 91–114.
PLÖTZ, R. (2003): Pilgerfahrt zum heiligen Jakobus. In: CAUCCI VON SAUKEN, P. (Hrsg.): Santiago de Compostela. Pilgerwege. Weltbild, Augsburg, S. 17–37.
1.2.2 Natur als ästhetischer Genuss
Um die Natur oder eine Landschaft nicht nur mit den Augen eines Bauern, eines Handwerkergesellen auf der Walz, eines seine nächste Schlachtordnung entwickelnden Feldherrn oder eines an seine Staatskasse denkenden Fürsten zu sehen, brauchte das christliche Abendland sehr viele Jahrhunderte. Die Natur als „schön“ zu beurteilen, ihr auch eine ästhetische Dimension zuzugestehen, solch revolutionäre Gedanken kommen erstmals im 18. Jahrhundert auf.
Es ist die Zeit, in der der europäische Adel sich verstärkt zum Freizeitvergnügen in der Natur aufhält, ihr näher kommt als vom Pferderücken, den gepolsterten Sitzen einer offenen Kutsche oder den abgezählten Schritten durch das Gartenparterre oder die Laubengänge eines Schlossparks. Man nähert sich der Natur noch mehr. Die vornehmen Damen in ihren Seidenkleidern sitzen mitten im Gras, es wird musiziert, erzählt und gespielt, wie es beispielsweise die Gemälde von Jean-Antoine Watteau (1684–1721) zeigen. Schäferspiele kommen in Mode. Modern gesprochen: Der Aufenthalt im Grünen bekommt erstmals einen Spaßfaktor. Die berühmte Aufforderung „Zurück zur Natur“, die Jean Jacques Rousseau (1712–1778) zugeschrieben wird, gehört zur Zivilisationskritik des 18. Jahrhunderts.
In der Wahrnehmung der Alpen lässt sich verfolgen, dass die frühen Wanderer und Reisenden in Kutschen und Sänften, die angesichts des gruseligen Ausblicks lieber die Vorhänge zugezogen hatten, noch keinen Sinn für die Schönheit der Hochgebirgslandschaft besaßen. Noch im 19. Jahrhundert ist man zweigespalten, bzw. unterscheidet klar zwischen dem „Wechsel hier von angenehmen, landschaftlichen Parthien mit den entsetzlichsten Wildnissen.“ (ZSCHOKKE (1842), S. 62)
♦ Wissen: Auf dem Weg zum Gotthardpass (1842)
„Ringsum steigen die Berge der Schöllenen senkrecht, glatt und kahl in grausenhafter Nacktheit empor; schwarze Mauer 100–1000 Fuß hoch. Man wandelt wie auf dem tiefen Boden eines ungeheuern Felsenkessels, oder vielmehr an einer Rippe desselben, längs welchem die Straße sich, unter überhangendem Gestein, über jähen Abhängen fortwindet. Oft scheint der Ausweg zu fehlen; und wenn er wieder erscheint, öffnet er nur die Aussicht in noch furchtbarere Wüstenei. Man erblickt den Strom der Reuß, statt tief unter den Füßen, vor sich oben. […]
Der Ausweg vom Thal der Schrecken droht Eingang eines noch grauenvollern Schauspiels zu werden. Und die der Wanderer, nach etwa hundert Schritten, aus der Dämmerung des Urnerlochs an’s Licht des Tages hervortritt, umfängt ihn eine neue Welt. Ein geräumiges, ebenes Wiesenthal, von grünen Bergen umfangen, liegt träumerisch vor ihm da“
Quelle: ZSCHOKKE (1842), S. 63
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