Gabriele M. Knoll

Handbuch Wandertourismus


Скачать книгу

Mann mit dem Naturforscher Johannes Gessner quer durch die Schweiz gewandert und hatte Pflanzen gesammelt. Doch er muss den Blick nicht nur auf den Boden geworfen haben, die Schönheit der Hochgebirgslandschaft außerhalb der Botanik ist ihm ebenso aufgefallen. In seinem Gedicht „Die Alpen“, erschienen 1732, schwärmt er von der Schönheit der Natur und fügt für den Leser gleich naturkundliche Informationen hinzu. Dieses 25 Seiten umfassende Gedicht wurde in alle europäischen Sprachen übersetzt und erlebte bereits zu Hallers Lebzeiten 30 Auflagen. Neben den Frühformen von Reiseliteratur konnte im 18. Jahrhundert ein solches Gedicht Reise-, korrekter Wanderbewegungen, auslösen. Gleiches gilt auch für Rousseaus 1761 erschienenen Liebesroman „ Julie oder die neue Héloise – Geschichte zweier Liebender am Fuße der Alpen“, der, wie ein Zeitzeuge beobachtete, Fremdenströme auslöste, an „die heiligen Orte der Héloise von Rousseau, wohin jetzt alle Fremden von Lausanne aus wallfahrten und wo sich besonders Engländer mit der ‚Héloise‘ in der Hand wochenlang aufhalten.“ (KNOLL (2006), S. 79)

      Die Engländer als Pioniere und Weltmeister des Reisens im 18./19. Jahrhundert waren auch die Ersten, die en gros die Schönheit von Natur zu schätzen wussten und diese in anderen Landschaften als auf ihrer Insel und entfernteren Ländern suchten. Ihre bewusste Annäherung an die Natur lässt sich in der Erfindung und Gestaltung des Englischen Landschaftsparks (→ Kap. 1.2.3) ausmachen, aber natürlich auch in ihrem Reiseverhalten.

      Auch wenn die Engländer maßgeblich Trends in der Landschaftswahrnehmung und dem Tourismus gesetzt haben, wie es auch am Beispiel der Reisen durch das Rheintal im Geist der Rheinromantik zu beobachten ist, soll jedoch am Beispiel deutschsprachiger Reisender dieser Wandel angedeutet werden. Als Zeitzeuge dient Friedrich Schlegel, der seine Eindrücke in den 1805 erschienenen „Köln und Rheinfahrt. Briefe auf einer Reise“ schildert: „Bei dem freundlichen Bonn fängt die eigentlich schöne Rheingegend an; eine reich geschmückte breite Flur, die sich wie eine große Schlucht zwischen Hügeln und Bergen eine Tagesreise lang hinaufzieht bis an den Einfluß der Mosel bei Koblenz; von da bis St. Goar und Bingen wird das Tal immer enger, die Felsen schroffer und die Gegend wilder; und hier ist der Rhein am schönsten. Überall belebt durch die geschäftigen Ufer, immer neu durch die Windungen des Stroms, und bedeutend verziert durch die kühnen, am Abhange hervorragenden Bruchstücke alter Burgen, scheint diese Gegend mehr ein in sich geschlossenes Gemälde zu überlegtes Kunstwerk eines bildenden Geistes zu sein, als einer Hervorbringung des Zufalls zu gleichen.“ (SCHNEIDER (1983), S. 105)

      Weitgehend frei vom romantisch inspirierten Blick auf die Landschaft des Rheintals war dagegen noch Georg Forster, der 1790 im Mittelrheintal zu Fuß und per Segelschiff unterwegs war. Auf den Gedanken, die Natur- und Kulturlandschaft des Mittelrheintals für ein sorgfältig gestaltetes Gemälde zu halten, kam der Naturforscher und Reiseschriftsteller nicht! „Für die Nacktheit des verengten Rheinufers unterhalb Bingen erhält der Landschaftskenner keine Entschädigung. […] Einige Stellen sind wild genug, um eine finstre Phantasie mit Orkusbildern zu nähren, selbst die Lage der Städtchen, die eingeengt sind zwischen den senkrechten Wänden des Schiefergebirges und dem Bette des furchtbaren Flusses, – furchtbar wird er, wenn er von geschmolzenem Alpenschnee oder von anhaltenden Regengüssen anschwillt – ist melancholisch und schauderhaft.“ (a. a. O., S. 72)

      Dass Landschaften schön und malerisch – vielleicht zeitgemäßer ausgedrückt: fotogen – sein können und allemal diejenigen, in denen sich Tourismus abspielt, auch ästhetische Erwartungen zu erfüllen haben, bezweifelt heute niemand mehr. Auch durch das von Forster noch so negativ beschriebene obere Mittelrheintal, das es 2002 immerhin zum Weltkulturerbe der UNESCO gebracht hat, ziehen sich durch die Hänge viel begangene Fernwanderwege, zum Beispiel der zu den Top Trails of Germany gehörende Rheinsteig auf dem rechten und der Rheinburgenweg auf dem linken Ufer. Welche Landschaften Wanderer heutzutage in Deutschland besonders schätzen, verrät → Kap. 3.1.1.

      ♦ Literatur

      FORSTER, G. (1791): Ansichten vom Niederrhein. In: SCHNEIDER, H. (Hrsg.) (1983): Der Rhein. Seine poetische Geschichte in Texten und Bildern. Insel, Frankfurt, S. 67–86.

      KNOLL, G. M. (2006): Kulturgeschichte des Reisens. Von der Pilgerfahrt zum Badeurlaub. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Primus, Darmstadt.

      OPPENHEIM, R. (1977): Die Entdeckung der Alpen. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt.

      STEINECKE, A. (2010): Populäre Irrtümer über Reisen und Tourismus. Oldenbourg, München, S. 97–108.

      SCHLEGEL, F. (1805): Köln und Rheinfahrt. Briefe auf einer Reise. In: SCHNEIDER, H. (Hrsg.) (1983): Der Rhein. Seine poetische Geschichte in Texten und Bildern. Insel, Frankfurt, S. 87–115.

      ZSCHOKKE, H. (1842) Die klassischen Stellen der Schweiz und deren Hauptorte. Kunst-Verlag, Karlsruhe, Leipzig, Nachdruck Harenberg, Dortmund 1978.

      ♦ Website

      ▶ Der Universalgelehrte und Entdecker der Schönheit der Alpen

      www.albrecht-von-haller.ch/d/index.php

      1.2.3 Der Spaziergang: anfangs ein fast revolutionäres, emanzipatorisches Sonntagsvergnügen

      Der „kleine Bruder“ der Wanderung, der Spaziergang ist eine ziemlich junge „Erfindung“. So selbstverständlich und gewöhnlich uns heute ein Spaziergang in unserem Alltag erscheinen mag, so sollte man sich jedoch davor hüten, ihn deswegen als eine „schon immer“ praktizierte Fortbewegungsart und Beschäftigung in der Freizeit zu betrachten! Da stellt sich schon die Frage, wer denn die Zeit für solch eine unproduktive Betätigung gehabt hätte? Wem wäre es in den Sinn gekommen, ein Vergnügen einfach nur in dieser wenig spektakulären Bewegung zu sehen?

      Trotzdem gibt es Frühformen des Spaziergangs in der europäischen Geschichte, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Eine der Wurzeln des modernen Spaziergangs liegt im Siegeszug der Trinkkur, der in jene Zeit fällt. Die Promenade im Badeort, mit dem Trinkbecher in der Hand, um das heilende Wasser in kleinen Schlückchen während des Gehens zu trinken, war Teil der medizinischen Indikation. Doch die gemächliche Bewegung wurde nur dafür verordnet, um die Mineralien besser aufzunehmen, mehr Kontakt mit der Natur als in einem gepflegten Kurpark, wenn man schon den schützenden Raum einer Brunnenkolonade verlassen hatte, war nicht vorgesehen. Doch dieses Flanieren mit dem Becher im Kurbad gehört mit zu den Vorläufern des Sonntagsspaziergangs des Bürgers und seiner Familie.

      Eine andere Wurzel des heutigen Spaziergangs lässt sich mit dem Lustwandeln im Schlossgarten oder Schlosspark ausmachen. Hier wird schon durch die angedeuteten Orte klar, dass es sich um eine herrschaftliche Freizeitbeschäftigung gehandelt hat. Wenn auch das Erleben des repräsentativsten Teils einer Gartenanlage mit den kunstvoll gestalteten Beeten vor dem Hauptgebäude des Schlosses von der Beletage im ersten Stock oder der Schlossterrasse vorgesehen war, so gibt es doch Elemente in der barocken Gartenarchitektur, die einen Spaziergang voraussetzen. Dazu gehören beispielsweise die Laubengänge oder Boskette – Wäldchen, die als grüne Räume mit hohen beschnittenen Hecken zwischen den Bäumen zum Spazieren und Verweilen einladen.

      Noch stärker wird der Besucher im englischen Landschaftsgarten oder Landschaftspark, der nachfolgenden Gartenmode zur Fortbewegung per Pedes motiviert. Nur durch das Spazierengehen in ihm lässt sich das Konzept seines Schöpfers vollständig nachvollziehen und seine Blickachsen und Blickpunkte erleben. Eine schöne Aussicht wird zu einem wesentlichen Teil des Naturgenusses. Die Natur – auch wenn sie in diesem Fall nicht ganz so natürlich ist wie sie scheint, sondern eine gut arrangierte Komposition eines Gartenarchitekten ist – erhält damit ästhetische Werte. „Natur an sich ist schön“, diese Sichtweise (→ Kap. 1.2.2) hatte erst im 18. Jahrhundert begonnen sich zu entwickeln und damit neben der materiellen Nutzung der Landschaft nun auch einer kontemplativen Nutzung Gelegenheit zu geben.

      „Herrschaftliche Gärten, wie etwa in Hohenheim, standen dem bürgerlichen Reisenden zwar nach Anmeldung offen, doch noch war der Spaziergang keine öffentliche Inszenierung bürgerlichen Wohlstands und freier Zeit. Mit der Form des Landschaftsgartens als Modell eines liberalen Natur- und Gesellschaftsbildes war die äußere, mit der bürgerlichen Individuation die innere Voraussetzung geschaffen,